Dienstag, 30. Dezember 2014

„Geh nicht dies Grab vorbey“ (Christian Jakob Wagenseil)


© Ernst T. Mader
Vor 175 Jahren starb Christian Jakob Wagenseil, der wichtigste Volksaufklärer Schwabens.

Foto: Stadtmuseum Kaufbeuren 
Repro: Mader
Zeitgenossen neigen dazu, ihre Gegenwart für etwas Besonderes zu halten. Manchmal zu Recht, oft zu Unrecht. Wer zum Beispiel glaubt, die kulturelle Vielfalt in Deutschland mit ihren Konflikten in Schulen und auf Straßen sei ein typisch modernes  Phänomen, blendet die mitunter blutigen multikulturellen Kämpfe der Vergangenheit aus, ausgefochten von Menschen gleicher Sprache, aber verschiedener Konfession oder Religion: Christen gegen Juden, Katholiken gegen Protestanten, Bibelgläubige gegen Darwinisten und so fort.  Noch nach dem zweiten Weltkrieg gehörte zum Beispiel das öffentliche Naserümpfen über Fronleichnam zum guten evangelischen Ton und seine demonstrative Feier zu den katholischen Kampfmitteln.
Viel getan für ein auskömmliches Miteinander der Kulturen und Konfessionen sowie ein freies Denken hat in Schwaben der 1756 in Kaufbeuren geborene Christian Jakob Wagenseil. Seine Studienzeit in Göttingen (Jura) und anschließende Reisen brachten ihm Kontakte unter anderem mit Goethe, Claudius und Klopstock. In öffentlichen Ämtern in Kaufbeuren, Kempten und Augsburg, als Autor, Herausgeber und Theaterreformer arbeitete er mit seiner im Norden gewonnenen aufgeklärten Weltsicht und wurde so zum wichtigsten Volksaufklärer Schwabens, ideell wie praktisch: In Kaufbeuren versuchte er zum Beispiel Verarmte über eine „Beschäftigungsanstalt“ wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern oder durch den Bau von Leichenhäusern und die Förderung der Blatternimpfung das Gesundheitswesen zu verbessern. In dieses Konzept passte auch, dass der Stadtrat 1783 seine Bürger aufforderte, endlich die Misthaufen vor den Häusern zu entfernen, wenigstens an den Hauptstraßen.
1780 regte Wagenseil die erste Leihbibliothek am Ort an und somit eine der ersten in Bayern, was ihm trotz spärlichen Zulaufs den offenen Hass katholischer Kreise einbrachte. Versöhnend wirkte hingegen seine Neuorganisation wöchentlicher Konzerte, weil sie die Kontakte zwischen den Konfessionen förderten. Schließlich gründete er 1786 die Freimaurerloge „Charlotte zu den drei Sternen“, die er allerdings drei Jahre später auf Weisung des städtischen Magistrats verlassen musste, in dessen Dienst er stand.
Von dem hochproduktiven und zu Lebzeiten umkämpften Schriftsteller erschienen 71 selbständige Titel im Druck, darunter Ritterballaden, Reden, Fabeln, Kantaten, Lieder, Gebete, Dramen und ein Roman. Deutlich spürbar ist die bewusste Volkstümlichkeit, seine pädagogisch-aufklärerische Haltung, das heißt der Versuch, Dichtung und Wissen breiten Schichten nahezubringen. Dies erhoffte sich Wagenseil unter anderem von seinen 20 Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen, die er mit schwäbischem Eifer herausgab und meist allein als Autor füllte. Vor allem sein „Gemeinnüziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied des Standes und der Religion, besonders in Schwaben“ zeigt Wagenseils Ziel, das er schon in der Nummer 1 begründete: „Aufklärung des Verstandes und Veredelung des Herzens.“
Dieses Programm fand sein Publikum nicht nur in Schwaben, sondern auch in München, Wien oder Berlin, und Wagenseil versorgte es im „Wochenblatt“ mit dem, was er dafür nötig hielt: Argumente gegen Jesuiten und Aberglauben, Hinweise auf praktische Neuerungen wie den Blitzableiter sowie belletristische Literatur, weswegen jede Ausgabe ein Gedicht, eine Fabel oder ein längeres Werk in Auszügen brachte.  Wohl wirken Wagenseils Schriften bisweilen wie die Kante vom Brot der Aufklärung: nahrhaft, aber trocken und hart, und sie entfalten ihren Geschmack mitunter erst nach langem Kauen; manches ist mehr Park als Landschaft. Doch bleibt bemerkenswert die Weite seiner geistigen Welt: Zu ihr gehörte der unprotestantische öffentliche Respekt vor dem katholischen Fronleichnamstag (für Luther das „schädlichste aller Feste“) ebenso wie der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (Lessings „Nathan der Weise“), nach dessen Tod 1786 er schrieb:
Geh nicht dies Grab vorbey, weils leicht sich fügt,
Daß ohne Dank du dich nicht wirst entfernen.
Du kannst beym Grab, in dem der weise Moses liegt,
Mehr, als aus mancher Predigt lernen.
Diese Offenheit brachte dem Freimaurer Wagenseil bisweilen heftige Konflikte ein, Unterstützung blieb jedoch nicht aus. Zeitgenossen schrieben: „Wir hören, dass er [Wagenseil] in seiner Gegend gewaltig mit Exjesuiten zu kämpfen hat. Das bedauern wir, ermuntern ihn aber, sich von Dummheit und Bosheit nicht überwinden zu lassen, sondern immer zu dem edlen Zweck zu arbeiten, Weisheit und brauchbare Kenntnisse in Schwaben zu verbreiten.“ Und so Mauern zwischen Menschen abzubauen. Manch Trennendes ist auch dank ihm mittlerweile verschwunden. Kaufbeuren ehrt den Unermüdlichen mit einer Straße, auch das Stadttheater hätte sich dafür angeboten: Wagenseil, so rühmt ein Nachruf den 1839 vermutlich in Augsburg Verstorbenen, habe es verstanden, „das durch ungesittete Possenreißereien verdorbene Theater gänzlich umzuschaffen“. #

Der Beitrag erschien am 18. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.

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