© Ernst T. Mader
Vor 175 Jahren starb Christian Jakob Wagenseil, der wichtigste
Volksaufklärer Schwabens.
Foto: Stadtmuseum Kaufbeuren
Repro: Mader
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Zeitgenossen neigen dazu, ihre
Gegenwart für etwas Besonderes zu halten. Manchmal zu Recht, oft zu Unrecht.
Wer zum Beispiel glaubt, die kulturelle Vielfalt in Deutschland mit ihren
Konflikten in Schulen und auf Straßen sei ein typisch modernes Phänomen, blendet die mitunter blutigen
multikulturellen Kämpfe der Vergangenheit aus, ausgefochten von Menschen
gleicher Sprache, aber verschiedener Konfession oder Religion: Christen gegen
Juden, Katholiken gegen Protestanten, Bibelgläubige gegen Darwinisten und so
fort. Noch nach dem zweiten
Weltkrieg gehörte zum Beispiel das öffentliche Naserümpfen über Fronleichnam
zum guten evangelischen Ton und seine demonstrative Feier zu den katholischen
Kampfmitteln.
Viel getan für ein auskömmliches
Miteinander der Kulturen und Konfessionen sowie ein freies Denken hat in
Schwaben der 1756 in Kaufbeuren geborene Christian
Jakob Wagenseil. Seine Studienzeit in Göttingen (Jura) und anschließende Reisen
brachten ihm Kontakte unter anderem mit Goethe, Claudius und Klopstock. In
öffentlichen Ämtern in Kaufbeuren, Kempten und Augsburg, als Autor, Herausgeber
und Theaterreformer arbeitete er mit seiner im Norden gewonnenen aufgeklärten
Weltsicht und wurde so zum wichtigsten Volksaufklärer Schwabens, ideell wie
praktisch: In Kaufbeuren versuchte er zum Beispiel Verarmte über eine
„Beschäftigungsanstalt“ wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern oder durch
den Bau von Leichenhäusern und die Förderung der Blatternimpfung das Gesundheitswesen
zu verbessern. In dieses Konzept passte auch, dass der Stadtrat 1783 seine
Bürger aufforderte, endlich die Misthaufen vor den Häusern zu entfernen,
wenigstens an den Hauptstraßen.
1780
regte Wagenseil die erste Leihbibliothek am Ort an und somit eine der ersten in
Bayern, was ihm trotz spärlichen Zulaufs den offenen Hass katholischer Kreise
einbrachte. Versöhnend wirkte hingegen seine Neuorganisation wöchentlicher
Konzerte, weil sie die Kontakte zwischen den Konfessionen förderten.
Schließlich gründete er 1786 die Freimaurerloge „Charlotte zu den drei
Sternen“, die er allerdings drei Jahre später auf Weisung des städtischen
Magistrats verlassen musste, in dessen Dienst er stand.
Von
dem hochproduktiven und zu Lebzeiten umkämpften Schriftsteller erschienen 71
selbständige Titel im Druck, darunter Ritterballaden, Reden, Fabeln, Kantaten,
Lieder, Gebete, Dramen und ein Roman. Deutlich spürbar ist die bewusste
Volkstümlichkeit, seine pädagogisch-aufklärerische Haltung, das heißt der
Versuch, Dichtung und Wissen breiten Schichten nahezubringen. Dies erhoffte
sich Wagenseil unter anderem von seinen 20 Zeitungen, Zeitschriften und
Almanachen, die er mit schwäbischem Eifer herausgab und meist allein als Autor
füllte. Vor allem sein „Gemeinnüziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied
des Standes und der Religion, besonders in Schwaben“ zeigt Wagenseils Ziel, das
er schon in der Nummer 1 begründete: „Aufklärung des Verstandes und Veredelung
des Herzens.“
Dieses
Programm fand sein Publikum nicht nur in Schwaben, sondern auch in München, Wien
oder Berlin, und Wagenseil versorgte es im „Wochenblatt“ mit dem, was er dafür
nötig hielt: Argumente gegen Jesuiten und Aberglauben, Hinweise auf praktische
Neuerungen wie den Blitzableiter sowie belletristische Literatur, weswegen jede
Ausgabe ein Gedicht, eine Fabel oder ein längeres Werk in Auszügen
brachte. Wohl wirken Wagenseils
Schriften bisweilen wie die Kante vom Brot der Aufklärung: nahrhaft, aber
trocken und hart, und sie entfalten ihren Geschmack mitunter erst nach langem
Kauen; manches ist mehr Park als Landschaft. Doch bleibt bemerkenswert die
Weite seiner geistigen Welt: Zu ihr gehörte der unprotestantische öffentliche Respekt
vor dem katholischen Fronleichnamstag (für Luther das „schädlichste aller
Feste“) ebenso wie der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (Lessings „Nathan
der Weise“), nach dessen Tod 1786 er schrieb:
Geh nicht dies Grab vorbey, weils leicht sich fügt,
Daß ohne Dank du dich nicht wirst entfernen.
Du kannst beym Grab, in dem der weise Moses liegt,
Mehr, als aus mancher Predigt lernen.
Diese
Offenheit brachte dem Freimaurer Wagenseil bisweilen heftige Konflikte ein,
Unterstützung blieb jedoch nicht aus. Zeitgenossen schrieben: „Wir hören, dass
er [Wagenseil] in seiner Gegend gewaltig mit Exjesuiten zu kämpfen hat. Das
bedauern wir, ermuntern ihn aber, sich von Dummheit und Bosheit nicht
überwinden zu lassen, sondern immer zu dem edlen Zweck zu arbeiten, Weisheit
und brauchbare Kenntnisse in Schwaben zu verbreiten.“ Und so Mauern zwischen
Menschen abzubauen. Manch Trennendes ist auch dank ihm mittlerweile
verschwunden. Kaufbeuren ehrt den Unermüdlichen mit einer Straße, auch das Stadttheater
hätte sich dafür angeboten: Wagenseil, so rühmt ein Nachruf den 1839 vermutlich
in Augsburg Verstorbenen, habe es verstanden, „das
durch ungesittete Possenreißereien verdorbene Theater gänzlich umzuschaffen“. #
Der Beitrag erschien am 18. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.
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