Dienstag, 3. Mai 2011

Tschernobyl 25

Als auch in Schwaben für kurze Zeit vieles anders war. 
Eine Erinnerung nach 25 Jahren

Anfang 1986 flog er hin, an Ostern wollte er im ersten Urlaub heim nach Ottobeuren; im sowjetischen Mogilev, etwa 400 km nördlich des damals nicht nur im Schwäbischen unbekannten Tschernobyl, gehörte der Ingenieur Willi Bielstein zu einer Gruppe, die für ihren deutschen Arbeitgeber in den nächsten zwei Jahren ein Chemiefaserwerk aufbauen sollten. Weil ihr Mann den versprochenen Urlaub an Ostern nicht bekam, flog seine Frau Hildegard zu ihm nach Weißrussland; am Dienstag, den 29. April, zwei Wochen nach ihrer Ankunft, hörten sie in der Deutschen Welle die Nachricht vom havarierten Reaktor in Tschernobyl – sowjetische Medien brachten dazu nichts, das Leben in Mogilev ging wie anderswo seinen gewohnten Gang; den Bielsteins aber war klar: Wir müssen hier weg. Hildegard konnte mit anderen Frauen und Kindern von Deutschen schnell über Wien nach Deutschland, ihr Mann erst am 2. Mai über Basel, nachdem er unterschrieben hatte, gegenüber der Sowjetunion auf Entschädigung wegen Folgen der atomaren Explosion zu verzichten, von der die Menschen in Mogilev auch nach einer Woche noch nichts wussten. Die Bielsteins trafen sich im Kernforschungszentrum Karlsruhe wieder, von wo sie nach einigen Untersuchungen tags darauf nach Ottobeuren zurück konnten. Nach Weißrussland, wo heute noch weite Landstriche verstrahlt sind, ging Willi Bielstein trotz der dringenden Bitten seiner Firma nicht mehr; er weiß, dass Kollegen, die es taten, inzwischen zum Teil an Leukämie gestorben sind.
Noch näher an der Katastrophe waren zehn Mitarbeiter von Hoechst in Bobingen; zum Zeitpunkt der Kernschmelze in Tschernobyl arbeiteten sie 150 km entfernt auf einer Baustelle, ohne etwas vom Größten anzunehmenden Unfall (GAU) in der Atomindustrie zu bemerken oder davon zu hören. Erst Anrufe aus der Heimat informierten sie darüber, Hoechst organisierte umgehend einen Rückflug und beließ fünf weitere Beschäftigte, die am 4. Mai zur Arbeit in die Ukraine sollten, in Bobingen.

Sie konnten den Heimkehrern von den vergangenen Tagen zuhause erzählen, vom letzten Samstag, 26. April, den nur noch am Alpenrand ein Föhn aufheiterte, ansonsten regnete es; man redete unter anderem über den Tod von Hermann Gmeiner, der 1955 in Dießen am Ammersee das erste SOS-Kinderdorf Deutschlands gegründet hatte und am vergangenen Samstag verstorben war. Am 29. April brachten die Medien kurze Hinweise auf ein „Unglück in einem Atomkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl mit möglicherweise schweren Folgen“, und das Wetteramt München kündigte schöne Tage an: „Der Mai soll seinem Ruf als Wonnemonat gerecht werden und aufholen, was der April versäumte.“
Am 30. April meldeten Agenturen den GAU: Der Kern einer der vier Reaktoren in Tschernobyl sei durchgeschmolzen, „vermutlich am Samstag“, zwei Menschen dort seien tot und Behörden zufolge „bestehe für Bayerns Bevölkerung keine Gefahr“. Auch in der Augsburger Allgemeinen zu lesende Gerüchte nannten weit höhere Zahlen. Nach heutigem Wissen explodierte der Reaktor am 26. April um 1.23 Uhr; im Raum Tschernobyl starben 31 Menschen in den ersten drei Monaten, die Krebsrate bei Kindern stieg auffällig, mehr als eine halbe Million Helfer (sog. Liquidatoren) wurde invalide und die Region auf Jahrzehnte radioaktiv verseucht.
Als westliche Medien die erste knappe Meldung über die Katastrophe brachten, zog die radioaktive Wolke schon über Bayern, und ein Tief aus Italien ließ sie ihr langlebiges Cäsium 137 vor allem ins Land südlich der Donau abregnen. Gundremmingen maß am 30. April das Dreifache des mittleren natürlichen Strahlungspegels, die Schwaben standen ahnungslos radioaktiv durchnässt um ihre Maifeuer und freuten sich auf „eine milde Ostströmung unter zunehmendem Hochdruckeinfluss“. Die werde dann, wie man am 1. Mai hörte,  „in den nächsten Tagen weitere radioaktive Luft nach Süddeutschland und in die Schweiz treiben“, von Risiken aber war keine Rede. Eine Familientherapeutin aus dem Raum Obergünzburg und Mutter dreier damals kleiner Kinder erinnert sich: „Nach dem verregneten Aprilende lockte die Sonne ab dem 1. Mai die Kinder natürlich ins Freie. Ich weiß noch, wie sie im gerade wachsenden Gras und im Sandkasten spielten, und zwei Tage später hab ich dann erfahren, dass ausgerechnet Sandkästen besonders verstrahlt seien. Da war es schon passiert. Unseren Sand ließ ich untersuchen; seine radioaktive Belastung war am 10. Mai 25 mal höher als der Normalwert. Wir haben ihn dann ausgetauscht und das Beste gehofft.“

Vom 30. April an beherrschte „Tschernobyl“ einen Monat lang die vorderen Seiten der Augsburger Allgemeinen wie die Topplätze anderer Medien, erst am 29. Mai setzte sie keinen Beitrag mit Bezug zur Katastrophe in der Ukraine oder der deutschen Atomdebatte auf die Titelseite. Auf Fußballplätzen und in Bäckereien sprachen Menschen statt über Abseitsfallen und Semmeln  von Rem und Becquerel, Sievert und  Halbwertzeiten.

Seit Anfang Mai darf Frischmilch ab einem bestimmten Grad an radioaktiver Verstrahlung (Jod 131-Aktivität über 500 Becquerel) nicht mehr in den Handel kommen, die Allgäuer Bauern werden vom Tiergesundheitsdienst aufgefordert, Kühe nicht auf die Weide zu treiben und ihnen kein frisch gemähtes Gras zu füttern. Nicht alle Bauern halten sich daran, weil Silofutter mancherorts aufgebraucht ist. Und es gibt im Allgäu niemanden, der Radioaktivität in der Milch messen kann; die zuständige Milchwirtschaftliche Untersuchungs- und Versuchsanstalt in Kempten teilt mit: „Wir können nur feststellen, wenn es den Bauern reinregnet in die Milch, aber nicht, wenn es reinstrahlt.“ Proben werden deshalb ins AKW Gundremmingen geschickt,  sie enthalten neben „völlig ungefährlichen Werten“ zum Teil mehr als das Dreifache des angeblich unbedenklichen Becquerel-Wertes. Die Leute reagieren verschreckt oder vorsichtig, die Molkerei Müller (Aretsried) erklärt Milch für „unbedenklich“, aber ihr Verkauf bricht ein,  im Allgäu und bei der Augsburger Cema zum Beispiel geht er schlagartig um die Hälfte zurück – wie der Absatz von Blattgemüse beim Gemüse-Großhändler Alfred Stölzel in der Fuggerstadt, der „gewaltige Einbußen“ spürt. Hingegen sind Eier aus Legebatterien, Hühner aus Massenhaltung und Gemüse aus dem Treibhaus gefragt, am liebsten in Dosen – was draußen rumläuft und unter freiem Himmel wächst, meiden viele Kunden; so trifft die atomare Katastrophe ausgerechnet die ersten Bio-Bauern südlich der Donau am härtesten – und sie motiviert zu einer großen Demonstration in Augsburg am 10. Mai: „Tschernobyl ist überall – Ausstieg aus der Atomtechnologie“. Andere finden höheren Orts Trost: Eine schwäbische Vegetarierin beruhigt der bayerische Umweltminister Dick bei einer Telefonaktion mit dem neckischen Hinweis: „Sie fressen doch kein Gras.“ Und Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle aus Kempten macht für seine etwa 13.000 Allgäuer Milchbauern rund zehn Millionen Mark locker,  die der Staat noch im Juni als Entschädigung für entgangene Einnahmen ausbezahlt.
(Der Bund zahlt übrigens auch heute – 25 Jahre nach der Katastrophe – noch für deren Folgen: nach Angaben des Umweltministeriums bis Ende Juni 2010 insgesamt 238 Millionen Euro, z.  B. an Jäger, wenn sie erlegte Wildschweine wegen deren Strahlenbelastung nicht verkaufen können. )

Während die Behörden zunehmend Entwarnung geben - Bayern erlaubt z. B. Mitte Mai den Bauern die Grünfütterung wieder – , die radioaktive Wolke nach einer Erdumrundung abgeschwächt wieder über Westeuropa zieht und Roy Black in Bad Oy (Ostallgäu) am Pfingstsonntag für Unterhaltung sorgt, wächst die Besorgnis der Bevölkerung, und ihre Aktivitäten nehmen zu: Inge Aicher-Scholl und ihr Mann Otl Aicher aus Leutkirch organisieren gegen die Befürworter der AKWs eine ganzseitige Anzeige in der ZEIT vom 23. Mai. Ärzte in Schwaben warnen mit einer Kampagne in der regionalen Presse vor Spätschäden durch radioaktive Strahlen, gegen die sie „machtlos“ seien. Ortsverbände von SPD und Grünen plädieren für den Ausstieg, während die Union „unbeirrt auf Kernkraft setzt“. Die Wickert-Institute in Illereichen ermitteln, dass 68 Prozent der Bundesbürger amtlichen Angaben zu Atomgefahren  „gar nicht“ trauen.
Viele, vor allem stillende Mütter und Schwangere, wollen wissen, was zu tun sei, und werden auf Trockenmilch bzw. Milchpulver verwiesen, woraufhin ein Ansturm auf diese Produkte einsetzt. Pfadfinder sagen ihre Pfingstlager ab, Privatinitiativen messen in manchen Dörfern die Strahlung in Gullys, leeren sie mit dicken Handschuhen und entsorgen den Schlamm an schwer zugänglichen Orten, da die Behörden völlig überfordert und zu keinem Rat in der Lage sind. Beschäftigte im Atomkraftwerk (AKW) Gundremmingen rechnen mit der baldigen Stilllegung der Anlage, doch beunruhigt sie weniger die behauptete Energielücke in Deutschland als die dann reale Lücke in ihrem Geldbeutel. Manche befällt die schiere Panik: Werde ich entlassen? Kann ich meine Kredite noch bedienen? Muss ich mein Haus verkaufen? Anderen macht gerade der Weiterbetrieb des Meilers Sorgen: Am 27. Mai sprechen Ärzte im Kurtheater Bad Wörishofen zu einem verunsicherten Publikum über radioaktive Strahlung.
Ab 31. Mai bringt die Fußball-WM in Mexiko Ablenkung (an ihrem Ende ist Deutschland Vizeweltmeister nach einem 2:3 gegen Argentinien), doch verhindert sie nicht Fragen, die auch ansonsten stille Winkel beunruhigen; im Ostallgäuer Blöcktach ist bei einem Informationsabend mit einem Arzt am 12. Juni die Wirtschaft voll;  ein Plakat an der damaligen Käsküche zeigt, was die Menschen umtreibt: Sind wir akut bedroht? Welche Langzeitfolgen sind zu erwarten? Sind Atomkraftwerke sicher?  Vor Beginn der Hüttensaison macht die Strahlenangst der Wanderer den Wirten Sorgen, der Alpenverein will mit Messungen alle beruhigen. An der Memminger Hütte über dem Lechtal stellt er keine kritischen Werte fest.
Für Unmut und Nervosität bei der Stadt Kaufbeuren sorgten Plakate und Flugblätter eines Prof. Dr. Cerno Bühl, der sich als „wissenschaftlicher Berater“ der Kommune an die Öffentlichkeit wandte: „Um Ihnen Klarheit über das Ausmaß der radioaktiven Belastung Ihrer Abfälle zu verschaffen, untersuchen wir diese kostenlos.“ Man möge sie beim „Strahlenservice“ im Rathaus vorbeibringen. „Oberbürgermeister Rudolf Krause“, hieß es am 22. Mai in der Allgäuer Zeitung (AZ), „war verärgert über diese ,Machwerke‘. Der Anlass für die Aktion, die radioaktive Belastung von Grasschnitt, Sand, Gartenerde und geerntetem Gemüse, sei ,traurig genug. Dass jetzt ein paar Wirrköpfe die Kaufbeurer Bürger durch falsche Informationen irreführen wollen, finde ich geschmacklos.’“ Krause musste der AZ gegenüber dann allerdings einräumen, dass die Stadt keine Möglichkeit habe, radioaktive Abfälle zu untersuchen. Eine Woche später lässt die Leserbriefseite Sympathien für Prof. Dr. Cerno Bühl erkennen.
Knapp 50 Jahre vorher hatte andernorts die deutsche Luftwaffe Verderben von oben gebracht: Am 26. April 1937 bombardierte die Legion Condor die baskische Stadt Gernika.
© Ernst T. Mader, April 2011
Eine gekürzte Fassung erschien am 21. April 2011 in der Augsburger Allgemeinen.