Montag, 9. Januar 2023

Honecker - Selenskyi

Erich Honecker 1992
vor der chilenischen Botschaft in Moskau
Foto: picture alliance / dpa

Wolodymyr Selenskyi 2022
vor dem Europaparlament (per Video)
Foto: dpa / EU

„Die Liste der Rituale und der von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Verhaltensmuster der Kommunisten ist lang. Fast noch zur Symbolik gehört allerdings die geballte Faust – Ausdruck von Kampf- und Gewaltbereitschaft. Sie dominiert als Geste auf kommunistischen Demonstrationen, vor allem aber am Schluss von Parteitagen und sonstigen Massenversammlungen beim gemeinsamen Absingen der ,Internationale‘.“ Konrad-Adenauer-Stiftung: Symbole des Linksextremismus. www.kas.de/de/web/extremismus/linksextremismus/symbole-des-linksextremismus [10. Jan. 2023] Collage: Mader

Dienstag, 14. September 2021

Taliban von nebenan

Die Soldaten kommen aus dem Norden und dem Westen, um angeblich in eine Weltecke voller Berge und Rückständigkeit ihre Modernität zu bringen. Mit Gewalt. Denn die meisten Hinterwäldler hängen an ihrem Leben, das die von draußen als mittelalterlich verspotten und deshalb etwa verkünden, Frauen dürften ihre Haut ab jetzt großzügig zeigen, nicht nur im Gesicht und an den Händen. 

Was den Einheimischen heilig ist, gilt den Besatzern als Aberglaube, und so verbieten sie eingewurzelte religiöse Bräuche wie Wallfahrten oder Bittgänge. Dann rekrutieren die Invasoren auch noch Männer aus dem Bergvolk für die eigene Armee. Jetzt reicht’s. Ein streng religiöser Kerl mit einem Mordsbart führt andere streng religiöse Kerle mit Mordsbärten in Schlachten gegen die Fremden. Und gewinnt. Jedenfalls eine Zeitlang. Und das Publikum jubelt. Beklatscht die bärtigen Fundamentalisten, nicht die gefälligen Modernen. Es klatscht an einem Nachmittag in Altusried, ist schon eine Weile her. 

Die Kulisse der Freilichtbühne zeigt: Wir sitzen zwar im Oberallgäu, sind aber in Tirol. Der Oberbärtige heißt Andreas Hofer, kämpft 1809 gegen Bayern und Franzosen und ordnet nach dem ersten Sieg gegen die Eindringlinge an, Frauen sollten nicht mehr "ihre Brust und Armfleisch zu wenig und mit durchsichtigen Hadern bedecken". Zugleich verdammt ein Mitstreiter, der Kapuzinerpater Joachim Haspinger (in Tirol, nicht in Altusried), die von Bayern angeordnete Impfung gegen Pocken, weil damit den „Tiroler Seelen bayerisches Denken“ injiziert werden könnte. Seinem Ruf als „Freiheitskämpfer“ (mit vielen Denkmälern) hat das bis heute nicht geschadet. Am Ende (1810) wird Hofer von den siegreichen Franzosen als Aufrührer zum Tode verurteilt und erschossen. Wieder fühlt das Publikum mit dem antimodernen religiösen Krieger, nicht mit den aufgeklärten Siegern. 

Habe ich damals Taliban beklatscht? Taliban von nebenan? Wie auch immer: Wer Afghanistan 2021 verstehen will, kann von Tirol 1809 viel lernen. Wie von den Römern. Deren Taliban im besetzten Germanien hießen Cherusker. Diese analphabetischen Barbaren besiegten die Weltmacht Rom 9 nach Christus im Teutoburger Wald, angeführt von Arminius. Auch er schaffte es auf Denkmäler. Sogar in den USA. Unsere eigenen Taliban tun wir halt schon mögen.  

Der Text erschien am 4. September 2021 in der "Allgäuer Zeitung".

Montag, 16. Dezember 2019

Nikolausi und Guggenmosi


Das Artensterben geht weiter. Trotz Annalena Söder, FDP und alledem trifft es nun auch die allerseltensten: Verlässlichen (weil Schweizer) Quellen zufolge gab es 2018 erdenweit 2158 Milliardäre; jetzt sind es noch 2101. Klimawandel halt. Wenn das so weitergeht, naja. Andererseits gehören Schrumpfen und Verschwinden einer Spezies zum Leben. Kaum ein Landstrich hat das heftiger verspürt als hier der unsre weit und breit: Wo sich vor schlappen 11 Millionen Jahren, erdgeschichtlich also vor kurzem, noch Nashörner, Pandas und Elefanten tummelten neben Raritäten wie Säbelzahnkatzen und Hundebären, sorgt heute allenfalls ein wandernder Wolf für kurzen Kitzel. Weil die damaligen Kronen der Schöpfung zu dumm waren, genügend CO-Zwei zu produzieren, um die Erderkaltung zu verhindern. Ungefähr 20 Grad wärmer im Schnitt als heute war’s damals zwischen Bodensee und Lech und drumherum, aber Deppen wie Udo von und zu Pforzen-Hammerschmiede alias Danuvius guggenmosi vermasselten das tropische Paradies an Wertach und Günz, und mit jedem Grad verschwand eine Art. Auch Udos eigene, obwohl bereits zu Lebzeiten bestaunt als Urzelle des Ministeriums für alberne Gangarten, das sich nach England retten und so segensreich weiterwirken konnte.
Udo soll nicht nur in Körperhaltung und Gehweise schon ein echter Lindenberg gewesen sein, sondern seine Umgebung obendrein mit näselnd-genuschelten Lauten genervt haben, was den Abgang feinfühliger Wesen wie Nashorn oder Hundebär sicher beschleunigt hat. Auch war der krumme Urzeitler angeblich immer mit mehreren Weibchen gleichzeitig zugange. Darauf lasse sich „aufgrund des Längenverhältnisses von Ring- und Zeigefinger wissenschaftlich seriös schließen“, behauptet Udos Taufpatin, Frau Prof. B. Eingeflüstert haben ihr das Kollegen, die auch verbreiten, Spekulanten machten an der Börse mehr Gewinn als üblich, wenn ihre Ringfinger länger seien als die Zeigefinger. Das klingt so seriös wie die von Erich Kästner schon vor 90 Jahren verspotteten Gelehrten, die aus Caesars Schreibstil auf seine Plattfüße schlossen. Sei’s drum: Nach Osterhasi und Nikolausi feiern manche wohl bald auch den Guggenmosi. Vielleicht am 14. Dezember, dem internationalen Affentag.

© Ernst T. Mader

Donald Trump als David im "Spiegel"

             In der abendländischen Bildsprache gibt 
             der Spiegel-Titel vom 4. Febr. 2017 Donald Trump 
             die Rolle des David, der Goliath enthauptet hat.


Montag, 17. September 2018

Katherine Mansfield

 
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Weltliteratur aus Bad Wörishofen

Sie gilt als Ikone modernen Schreibens, und Virginia Woolf bekannte, nur auf die Literatur der Katherine Mansfield (1888-1923) sei sie je eifersüchtig gewesen. 1980 tauchten Studenten aus Mansfields Geburtsland Neuseeland in Bad Wörishofen auf, um den Ort zu sehen, der die Autorin geprägt und in dem die später Weltberühmte Geschichten für ihr erstes Buch geschrieben hatte – einen Hinweis darauf fanden sie im Kneipp-Kurort allerdings nicht. 

Die literarischen Pilger erklärten, was sie nach Schwaben führte: Kathleen Mansfield  Beauchamp (Geburtsname) ging 1908 nach London, war dort bald vom Sohn ihres Cello-Lehrers schwanger, heiratete jedoch den Gesangslehrer George Bowden, den sie laut Mansfield-Forscher Heiko Arntz noch in der Hochzeitsnacht verließ. Daraufhin reiste die immer gut informierte Mutter an und wusste auch schon, wo die Deutsch Sprechende, im fünften Monat Schwangere gesund, angenehm, aber unbemerkt von den englischen Bekannten leben und schließlich entbinden sollte: in Wörishofen, der damals mehr als heute international geprägten, aber ruhigeren, weniger mondänen Alternative zu Baden-Baden oder Marienbad. Und so schrieb sich im Mai 1909 „Käthe Beauchamp-Bowden, Schriftstellerin“ ins Gästebuch des Hotels Kreuzer im schwäbischen Kurort, der unter anderem mit der „Freiheit von jedem Modezwang“ warb.
Nach wenigen Tagen zieht sie um in die „Villa Pension Müller“. Ende Mai verliert sie ihr Kind durch eine Fehlgeburt. Bis zu ihrer Rückkehr nach England Ende Dezember 1909 formt sie aus der eigenen Situation und dem Nachdenken über sich, aus ihren Beobachtungen von Einheimischen und Kurgästen, Milieu und Landschaft ein deutsches Bild voller Trauer und humorvoller Bosheiten, das mittlerweile zur Weltliteratur zählt. Wer die Region kennt, liest noch immer Vertrautes: Wörishofen taucht als dem benachbarten Mindelau nachempfundenes „Mindelbau“ auf, das nahegelegene Dorschhausen kommt vor, das Café Luitpold und das ein paar Kilometer entfernte Schlingen, in dessen Wirtshäuser Kennern zufolge Kurgäste gingen, die der strengen Diät entkommen wollten – was dem Ortsnamen eine sehr wörtliche Bedeutung gibt. Kurz vor ihrer Abreise wohnt Mansfield noch eine Weile beim Postbeamten Johann Brechenmacher, den sie dann mit Namen, Beruf und Frau in ihren literarischen Kosmos aufnimmt.

Am 24. Februar 1910 veröffentlicht die Londoner Wochenzeitung „The New Age“ die erste der in Wörishofen geschriebenen Kurzgeschichten: „Das Kind-das-müde-war“ – deutlich an Tschechow orientiert, dessen Werk sie im Kneipp-Ort durch ihren dortigen polnischen Liebhaber kennengelernt hatte. 1911 wird aus diesen frühen Geschichten der Katherine Mansfield, wie sie sich als Autorin nennt, ihr erstes Buch („In a German Pension“); auf Deutsch liegen sie seit 1980 vor.   
Die Villa Pension Müller 1909, als Katherine Mansfield dort wohnte.


Die „Villa Pension Müller“ fanden die neuseeländischen Studenten 1980 nicht mehr; sie hatte schon lange dem „Allgäuer Hof“ Platz gemacht. Doch enthüllten dort 1988 zum 100. Geburtstag der Autorin Neuseelands Botschafter in Deutschland, Bad Wörishofens Bürgermeister und der Hotelier eine Gedenktafel. 2007 wurde der „Allgäuer Hof“ abgerissen, die Gedenktafel lagert seither im örtlichen Bauhof. Bald soll es in der Kneipp-Stadt wieder eine öffentliche Erinnerung an Katherine Mansfield geben. #

Der Beitrag erschien am 24. Februar 2010 in der Augsburger Allgemeinen - 100 Jahre nach der Veröffentlichung der ersten bedeutenden Geschichte von Katherine Mansfield, geschrieben in der Kurstadt.

PS 2018: Seit ihrem 130. Geburtstag am 14. Oktober 2018 steht eine Katherine Mansfield-Statue im Kurpark von Bad Wörishofen, enthüllt in Anwesenheit des neuseeländischen Botschafters in Deutschland,  S. E. Rupert Thomas Holborow.

Bildnachweis:
Katherine Mansfield: google/Bilder (famouspoetsandpoems.com/pictures/katherine_mansfield.jpg)
Villa Pension Müller: Ohne Quellenangabe abgedruckt in: Katherine Mansfield: In einer deutschen Pension, Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 2006, S. 178. Repro: Mader

Montag, 6. Juli 2015

Fragen eines Vaters an sein groß gewordenes Kind


Du wirst mich vergessen.
 Ja. Jeden Tag.

Fragen eines Vaters
an sein groß gewordenes Kind

Habe ich in dunkler Nacht
den Arm um dich gelegt,
die fieberheiße Stirn gekühlt
und dich gesundgepflegt?

Hab ich dir Lieder beigebracht,
die bis heute in dir klingen,
und Lust, sie dann und wann und auch
am Sterbebett mit mir zu singen?

Hab ich dir meinen Stolz gezeigt
und meine Freude über dich?
Und geduldig zugehört,
wenn ein Zweifel dich  beschlich?

Hab ich dich schließlich gehen lassen,
weg von mir, woanders hin,
und sehen können, was du bist:
Mein Kind – und doch so anders, als ich bin?

Je mehr ich schreibe, spüre ich:
Ich will die Antworten nicht wissen.
Es reicht, dass du erwachsen bist.
Erlaube mir, dich zu vermissen.

© Ernst T. Mader

Dienstag, 30. Dezember 2014

Heimkehr in den Krieg (1914)


Allgäuer erfahren 1914 als Pilger in Palästina vom Kriegsbeginn in Europa
© Ernst T. Mader

Am 28. Juni 1914 werden der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajewo von dem Serben Princip erschossen. Europa bebt. Doch weichen Entsetzen und Kriegsfurcht auch im Allgäu bald dem Gefühl, bis auf eine Strafaktion Österreichs gegen Serbien werde militärisch weiter nichts passieren, und so beginnen am 16. Juli Gläubige aus dem gesamten Allgäu mit dem „Bayerischen Pilgerverein vom Heiligen Lande“ ihre lange geplante Wallfahrt nach Palästina, „sorglos“, wie der Blöcktacher Pfarrer als Teilnehmer notiert.
Über Salzburg und Villach bringt sie der Zug ins noch österreichische Triest, wo wie überall im Land Schaufenster ein Bild des Erzherzogs mit Trauerflor zeigen, was die Gegenwart bedrohlicher macht als daheim. Die fünftägige Fahrt über das Mittelmeer wirkt beruhigend , weil jedes kreuzende Schiff friedlich salutiert, und den letzten trüben Gedanken vertreibt der erste Kontakt mit dem Boden, auf dem die christliche Geschichte begann. Ende Juli betet die Gruppe nach Stationen in Nazareth, Jerusalem und Bethlehem in Bethanien, wo im Johannesevangelium Jesus den toten Lazarus wieder ins Leben holt (in den folgenden vier Jahren ein häufiges Thema in Predigten). Dort hören die Allgäuer mit einiger Verspätung von der Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Während sie daheim Freude auslöst, sorgt sie bei der Pilgergruppe für „gemischte Gefühle“, die ins Bedrückende absinken, als in Jerusalem bald danach das Gerücht umgeht, „dass auch Deutschland auf dem Kriegsfuße stehe“. Mehr oder Genaues wissen die Wallfahrer an diesem 1. August nicht (tatsächlich hat Deutschland an diesem Tag Russland den Krieg erklärt). Im Allgäu besteigen derweil an allen Bahnhöfen Wehrpflichtige und Freiwillige beweint und bejubelt ihre Züge an die Front, und ein Extra-Blatt verkündet in dicken Lettern: „Das Volk steht auf – der Sturm bricht los.“ Die Palästinapilger aber leiden: „In Jerusalem erhielten wir nur die telegraphische Kunde, dass in Berlin eine fieberhafte Aufregung herrsche, Österreich bereits Belgrad beschieße. Und da erfasste uns verzehrendes Heimweh, eine dunkle Ahnung verschlang auf einmal die heilige Stimmung: O wären wir nur im bedrohten heimischen Lande, werden wir’s wohl noch einmal sehen?! – Am 2. August haben wir zwei Mitpilgerinnen mit großem Schmerz auf ,Sion‘ begraben, sie haben ihre Ruhe gefunden, sind aller Sorgen entledigt; aber wir? Unser Schiff, die Tirol, weilt bis 2. August in Alexandrien, an eine Abfahrt in Jaffa [heute ein Teil von Tel Aviv] ist vor 3. August nicht zu denken.“
Teil der bayerischen Pilgergruppe im Heiligen Land 1914. Repro: Mader

Dann muss es plötzlich ganz schnell gehen: Gleich nach ihrem Einlaufen in Jaffa erhält die Tirol telegrafisch den Befehl, sofort und unter Volldampf auf dem kürzesten Kurs nach Triest zu fahren; die Hektik auf dem Schiff erleben die Pilger zunächst als beängstigend, zumal ein französischer Kreuzer die ganze Zeit bedrohlich hinter ihnen bleibt. Bald aber überdeckt die Seekrankheit bei den meisten jede andere Sorge. Südlich von Kreta sichten einige Wallfahrer ein mutmaßlich feindliches Schiff, was einen Bauern aus Seeg, mittlerweile nur noch ein liegendes Elend, kalt lässt: „Und wenn der Teufel kommt, ist mir’s gleich.“ Im Allgäu hat man seit zwei Wochen nichts mehr von den Pilgern gehört, manche bezweifeln schon, ob sie jemals heil aus dem Kriegsgebiet Mittelmeer heimkommen. Dort schwimmt die Tirol aus Furcht vor Feinden ohne Licht durch die Nacht, in die hinaus ihre verängstigten Passagiere „vaterländische  und Heimatlieder“ singen, was zumindest für den Moment die tröstliche Illusion erlaubt, „als ob wir in süßestem Frieden dahinführen“. Erst die Passage der Straße von Otranto am Absatz des italienischen Stiefels bringt die ersehnte Beruhigung; die Adria gilt als sicher:„O, wie atmete da jedes Pilgerherz auf! Wären wir jetzt nur schon in der Heimat, oder wenigstens doch in Triest!“ Dort läuft die Tirol in der nächsten Nacht schließlich ein. Am Morgen hetzen alle in die Stadt, „haschen nach den neuesten Blättern: es sind italienische. Aber, was wir sehen und hören und lesen, genügt: Deutschland im Krieg mit Russland, Frankreich und England! Wir sind verloren, das ist unser aller Gedanke und dumpfe Resignation legt sich wie ein Panzer, den Atem benehmend auf das Gemüt!“
Den Fahrplan der Eisenbahn bestimmt inzwischen das Militär; ein Zug für Zivilisten nach Wien fährt nur noch alle drei Tage. Die beginnende Panik unter den Pilgern beendet die Nachricht, dass die bayerische Regierung für den nächsten Tag einen Sonderzug organisieren konnte. Er verlässt Triest am Sonntagmorgen (9. August) und kommt nach 44 Stunden und 72 Tunnel in München an. Jeden Tunnel bewachen Soldaten, jeden Gleisabschnitt begehen Kontrolleure, bevor der Zug ihn befahren darf, weil Österreich dort von Serben gelegte Sprengfallen befürchtet. Der Blöcktacher Pfarrer notiert: „Wir wissen eigentlich keinen Moment, wann unser Zug in die Luft fliegt: ein beneidenswertes Gefühl!“
Endlich im Allgäu, kurz vor dem ersehnten heimatlichen Dorf, bekommt er auf dem Weg vom Bahnhof in Kaufbeuren zur Postkutsche gleich die seit Tagen vom Staat gezielt geschürte Feind-Hysterie zu spüren; für sie lauern überall im Land Spione und Saboteure, vor allem französische, auf jede Chance, Deutschland zu schaden: „Mein bärtiges Aussehen, weißer Strohhut und Staubmantel erregten den berechtigten Verdacht einiger patriotischer Leute, die mit grimmiger Miene meiner Spur folgten, bis ich endlich ihren Irrtum aufklärte.“ Das Land, das die Pilger vor knapp vier Wochen im Frieden verlassen hatten, führte nun Krieg. #

Der Beitrag erschien am 6. August 2014 in der Allgäuer Zeitung.

Ein Augenzeuge des Attentats von Sarajewo


Ein Augenzeuge des Attentates von Sarajewo 1914 lebte nach 1945 in Kaufbeuren
© Ernst T. Mader

Ein Augenzeuge des Attentats von Sarajewo 1914 auf das österreichische Thronfolgerpaar Franz Ferdinand und seine Frau Sophie lebte nach 1945 in Kaufbeuren: Anton Pasler kam 1910 aus seiner sudetendeutschen Heimat als Beamter der österreichisch-ungarischen Militärpost nach Sarajewo. Am 28. Juni 1914 stand der Dreißigjährige vor dem Militärpostamt, einem eingeplanten Halt der erzherzoglichen Kolonne. Der Präsident der Militärpost, berichtet Pasler später einem Reporter des „Allgäuer“, begrüßte das Paar und überreichte ihm ein Telegramm der erzherzoglichen Kinder. Die Wagen fuhren weiter. Dann, so Pasler, erreichte ihn aus dem dritten Stock des Postamts die Meldung, eine Bombe sei auf das Habsburger-Auto geworfen worden. Er lief zur allgemein bekannten Fahrtroute, die der Chauffeur des Thronfolgers trotz des Attentatsversuchs irrtümlich beibehielt und auf der die Kolonne – nach einem kurzen Empfang im Rathaus - bald vorbeikam. Offensichtlich war der hohe Besuch unverletzt (dass die Bombe andere zum Teil schwer verwundet hatte, wusste Pasler zu diesem Zeitpunkt nicht). Pasler sieht, wie das Auto mit dem Thronfolgerpaar kurz hält: „Ich stand etwa vierzig Meter davon entfernt und sah selbst, wie der Attentäter Princip vom Gehsteig neben dem Auto aus seine zwei Schüsse abgab. Er traf den Erzherzog in die Halsschlagader und die Erzherzogin in die rechte Seite des Leibes. Als der Wagen schon auf die Brücke (Lateinerbrücke) einfuhr, sank der Kopf des Erzherzogs nach hinten, der Generalshut fiel in den Wagen.“ Vom Chauffeur will Anton Pasler später die letzten Worte Franz Ferdinands erfahren haben. Sie galten seiner Frau: „Du musst für unsere Kinder weiterleben.“ Minuten danach war das Paar tot.
Kurz darauf, so Pasler, habe ein Unbekannter bei einem Kollegen ein Telegramm an einen serbischen Major in Belgrad aufgegeben: „Beide Pferde gut verkauft.“ Das Telegramm ist verbürgt.
Tags darauf seien serbische Geschäfte in Sarajewo, wo nach der Erinnerung des ungebrochen habsburgtreuen Pensionisten viele Völker bis dahin „ausgezeichnet“ zusammengelebt hatten, „der Volkswut preisgegeben worden“.
Anton Pasler blieb noch bis 1921 als Postbeamter in Sarajewo, seit 1918 Teil des Königreiches Jugoslawien. Dann ging er in das nun tschechische Sudetenland zurück. Nach dem zweiten Weltkrieg lebte er bei Schwiegersohn und Tochter in Kaufbeuren.
PS: Von 1918 bis 1995 war die vormalige und heutige Lateinerbrücke in Sarajewo nach dem Attentäter Gavrilo Princip benannt, der am 28. April 1918 als Häftling in Theresienstadt (Tschechien, 1941 bis 1945 Ghetto und KZ) starb.
Auf dieser alten Ansicht von Sarajewo markierte Anton Pasler vor 50 Jahren einige beim Attentat von 1914 wichtige Stellen; Pfeil 2 (über der damaligen Lateinerbrücke) zeigt auf die Straße, in der das österreichische Thronfolgerpaar erschossen wurde. Die Tat sollte Bosnien-Herzegowina von der österreichisch-ungarischen Besatzung befreien.
Repro: Mader



Der Beitrag erschien am 30. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.

„Geh nicht dies Grab vorbey“ (Christian Jakob Wagenseil)


© Ernst T. Mader
Vor 175 Jahren starb Christian Jakob Wagenseil, der wichtigste Volksaufklärer Schwabens.

Foto: Stadtmuseum Kaufbeuren 
Repro: Mader
Zeitgenossen neigen dazu, ihre Gegenwart für etwas Besonderes zu halten. Manchmal zu Recht, oft zu Unrecht. Wer zum Beispiel glaubt, die kulturelle Vielfalt in Deutschland mit ihren Konflikten in Schulen und auf Straßen sei ein typisch modernes  Phänomen, blendet die mitunter blutigen multikulturellen Kämpfe der Vergangenheit aus, ausgefochten von Menschen gleicher Sprache, aber verschiedener Konfession oder Religion: Christen gegen Juden, Katholiken gegen Protestanten, Bibelgläubige gegen Darwinisten und so fort.  Noch nach dem zweiten Weltkrieg gehörte zum Beispiel das öffentliche Naserümpfen über Fronleichnam zum guten evangelischen Ton und seine demonstrative Feier zu den katholischen Kampfmitteln.
Viel getan für ein auskömmliches Miteinander der Kulturen und Konfessionen sowie ein freies Denken hat in Schwaben der 1756 in Kaufbeuren geborene Christian Jakob Wagenseil. Seine Studienzeit in Göttingen (Jura) und anschließende Reisen brachten ihm Kontakte unter anderem mit Goethe, Claudius und Klopstock. In öffentlichen Ämtern in Kaufbeuren, Kempten und Augsburg, als Autor, Herausgeber und Theaterreformer arbeitete er mit seiner im Norden gewonnenen aufgeklärten Weltsicht und wurde so zum wichtigsten Volksaufklärer Schwabens, ideell wie praktisch: In Kaufbeuren versuchte er zum Beispiel Verarmte über eine „Beschäftigungsanstalt“ wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern oder durch den Bau von Leichenhäusern und die Förderung der Blatternimpfung das Gesundheitswesen zu verbessern. In dieses Konzept passte auch, dass der Stadtrat 1783 seine Bürger aufforderte, endlich die Misthaufen vor den Häusern zu entfernen, wenigstens an den Hauptstraßen.
1780 regte Wagenseil die erste Leihbibliothek am Ort an und somit eine der ersten in Bayern, was ihm trotz spärlichen Zulaufs den offenen Hass katholischer Kreise einbrachte. Versöhnend wirkte hingegen seine Neuorganisation wöchentlicher Konzerte, weil sie die Kontakte zwischen den Konfessionen förderten. Schließlich gründete er 1786 die Freimaurerloge „Charlotte zu den drei Sternen“, die er allerdings drei Jahre später auf Weisung des städtischen Magistrats verlassen musste, in dessen Dienst er stand.
Von dem hochproduktiven und zu Lebzeiten umkämpften Schriftsteller erschienen 71 selbständige Titel im Druck, darunter Ritterballaden, Reden, Fabeln, Kantaten, Lieder, Gebete, Dramen und ein Roman. Deutlich spürbar ist die bewusste Volkstümlichkeit, seine pädagogisch-aufklärerische Haltung, das heißt der Versuch, Dichtung und Wissen breiten Schichten nahezubringen. Dies erhoffte sich Wagenseil unter anderem von seinen 20 Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen, die er mit schwäbischem Eifer herausgab und meist allein als Autor füllte. Vor allem sein „Gemeinnüziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied des Standes und der Religion, besonders in Schwaben“ zeigt Wagenseils Ziel, das er schon in der Nummer 1 begründete: „Aufklärung des Verstandes und Veredelung des Herzens.“
Dieses Programm fand sein Publikum nicht nur in Schwaben, sondern auch in München, Wien oder Berlin, und Wagenseil versorgte es im „Wochenblatt“ mit dem, was er dafür nötig hielt: Argumente gegen Jesuiten und Aberglauben, Hinweise auf praktische Neuerungen wie den Blitzableiter sowie belletristische Literatur, weswegen jede Ausgabe ein Gedicht, eine Fabel oder ein längeres Werk in Auszügen brachte.  Wohl wirken Wagenseils Schriften bisweilen wie die Kante vom Brot der Aufklärung: nahrhaft, aber trocken und hart, und sie entfalten ihren Geschmack mitunter erst nach langem Kauen; manches ist mehr Park als Landschaft. Doch bleibt bemerkenswert die Weite seiner geistigen Welt: Zu ihr gehörte der unprotestantische öffentliche Respekt vor dem katholischen Fronleichnamstag (für Luther das „schädlichste aller Feste“) ebenso wie der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (Lessings „Nathan der Weise“), nach dessen Tod 1786 er schrieb:
Geh nicht dies Grab vorbey, weils leicht sich fügt,
Daß ohne Dank du dich nicht wirst entfernen.
Du kannst beym Grab, in dem der weise Moses liegt,
Mehr, als aus mancher Predigt lernen.
Diese Offenheit brachte dem Freimaurer Wagenseil bisweilen heftige Konflikte ein, Unterstützung blieb jedoch nicht aus. Zeitgenossen schrieben: „Wir hören, dass er [Wagenseil] in seiner Gegend gewaltig mit Exjesuiten zu kämpfen hat. Das bedauern wir, ermuntern ihn aber, sich von Dummheit und Bosheit nicht überwinden zu lassen, sondern immer zu dem edlen Zweck zu arbeiten, Weisheit und brauchbare Kenntnisse in Schwaben zu verbreiten.“ Und so Mauern zwischen Menschen abzubauen. Manch Trennendes ist auch dank ihm mittlerweile verschwunden. Kaufbeuren ehrt den Unermüdlichen mit einer Straße, auch das Stadttheater hätte sich dafür angeboten: Wagenseil, so rühmt ein Nachruf den 1839 vermutlich in Augsburg Verstorbenen, habe es verstanden, „das durch ungesittete Possenreißereien verdorbene Theater gänzlich umzuschaffen“. #

Der Beitrag erschien am 18. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.

Klimawandel als Thema 1963


© Ernst T. Mader

Politik und Medien vermitteln den Eindruck, als sei die Debatte um den Klimawandel eine bestaunenswerte Leistung der heutigen Wissenschaft und Politik, während frühere Generationen dieses Menschheitsproblem gänzlich ignorierten. Ein Artikel im Allgäuer vom 22. Juni 1963 zeigt ein anderes Bild; er fragt: „Beeinflusst Kohlendioxyd unser Klima?“ und fasst einen Beitrag von Hans-Georg Matthäus zusammen, den dieser für die Beilage zur Wetterkarte des Instituts für Meteorologie und Geophysik der Freien Universität Berlin verfasst hatte. Darin heißt es unter anderem:
„Es sind jetzt gerade 100 Jahre vergangen, dass man einen Einfluss des in der Luft befindlichen Kohlendoxyds auf das Klima vermutete. Als eigentlicher Begründer der Theorie der Klimaänderungen durch Kohlendioxyd muss jedoch G. S. [Guy Stewart] Callendar angesehen werden, der im Jahre 1938 eine grundlegende Arbeit veröffentlichte, in welcher er die Möglichkeit [!] diskutiert, dass der Kohlendioxyd-Gehalt der Luft durch die Wirkung industrieller Verbrennungsprozesse ständig zunimmt, was eine Verstärkung der ,Treibhauswirkung‘ der Atmosphäre und somit eine allmähliche Erhöhung der Mitteltemperatur der Erde zur Folge hätte.
Ein anderer Wissenschaftler, G. N. [Gilbert Norman] Plass, gelangte nach umfangreichen Berechnungen zu der Schlussfolgerung, dass die Erdmitteltemperatur unter Berücksichtigung einer mittleren Wolkenverteilung um 2,5 Grad C ansteigt bzw. sinkt, je nachdem die gegenwärtige Kohlendioxyd-Konzentration der Atmosphäre verdoppelt oder halbiert wird. Eine so verursachte Abnahme der Mitteltemperatur bedeutet einen erheblichen Einfluss auf das Klima, denn aus einem Abfall der Erdmitteltemperatur um 3 bis 4 Grad C könnte schon eine neue Eiszeit entstehen. Bei dieser Theorie geht man davon aus, dass der Kohlendioxyd-Gehalt der Atmosphäre in geologischer Vorzeit stark variiert haben muss, was einmal auf den Kohlendioxyd-Verlust durch Bildung neuer Kohlenlager zurückzuführen ist,  zum anderen auf eine Zunahme  der atmosphärischen Kohlendioxyd-Konzentration durch Prozesse wie Eruptionen heißer Quellen und Vulkanausbrüche. Die verschiedenen Änderungen des Kohlendioxyd-Gehalts der Luft müssten demnach verschiedene Epochen von Klimaschwankungen verursacht haben. Tatsächlich hat es ja auch mehrere Eiszeiten gegeben.
Durch industrielle Verbrennungsprozesse werden ungeheure Mengen von Kohlendioxyd in die Atmosphäre transportiert. Die gegenwärtigen Brennstoffvorräte der Erde werden in weniger als 1000 Jahren verbraucht sein. [1972 nannte der Club of Rome einen Zeitraum von nurmehr gut 100 Jahren.]  Ihre industrielle Verbrennung wird einen Kohlendioxyd-Betrag in die Atmosphäre befördern, der siebzehnmal größer als die gegenwärtig in der Atmosphäre enthaltenen Menge ist.  Da bei einem dauernden Steigen des atmosphärischen Kohlendioxyd-Gehalts von solch großem Ausmaß das Kohlendioxyd-Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wird daraus ein ständiger Temperaturanstieg resultieren. Man schätzt, dass die industrielle Tätigkeit des Menschen die Mitteltemperatur der Erde um 1,1 Grad C je Jahrhundert erhöht. Betrachtet man den Kohlendioxyd-Gehalt der Luft während großer Zeiträume, kann man die Feststellung ableiten, dass der Mensch durch seine industrielle Tätigkeit ein umfangreiches geophysikalisches Experiment durchführt; innerhalb weniger Jahrhunderte wird der Atmosphäre der Kohlenstoff wieder zurückgeführt, der in einigen 100 Millionen von Jahren durch Bildung von Kohlenlagerstätten aus der Atmosphäre entnommen wurde.
Allerdings sind das nur mehr oder weniger Theorien, die keinesfalls von der gesamten Wissenschaft unterstützt werden. Aber die Frage, ob Kohlendioxyd unser Klima beeinflusst, ist doch so interessant, dass man sich ruhig einmal Gedanken darüber machen sollte.“

Eine Woche später erschien derselbe Artikel noch einmal – offenbar maß die Redaktion des Allgäuer dem Thema vor 50 Jahren enorme Bedeutung bei, das ansonsten nur einen winzigen Kreis von Wissenschaftlern beschäftigte. Am noch lange andauernden Desinteresse von Politik und Öffentlichkeit an der Problematik änderte das allerdings nichts. #

Der Beitrag erschien am 12. Dezember 2013  in der Allgäuer Zeitung.