Sonntag, 2. Oktober 2011

Mord in Blöcktach

Am 11. September 1906 geschah im Allgäu ein Verbrechen, das ganz Schwaben erschütterte - und auch bei Ludwig Thoma vorkommt.

Den gehetzt von Blöcktach nach Friesenried strampelnden Radler konnte der Fahrer aus seinem Postomnibus heraus wegen der einsetzenden Dämmerung nicht erkennen, am nächsten Tag, am 12. September, erfuhr er, dass er vermutlich einen Mörder gesehen hatte. Gegen sechs Uhr morgens entdeckte ein Maurer etwa 300 Meter außerhalb von Blöcktach neben der Straße ins knapp zwei Kilometer entfernte Friesenried die Leiche einer Frau, „fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die untere Hälfte des Gesichts war mit Blut und Staub bedeckt, der Unterleib weit aufgeschnitten, am Oberschenkel fehlte ein Stück Fleisch, das der Mörder mitgenommen zu haben scheint.“ Zwei Stunden später wurde sie als Balbina Kögel identifiziert, die 63-jährige Mutter des Blöcktacher Pfarrers. 
Anfang eines Artikels aus dem „Kaufbeurer Anzeigeblatt“ 
vom 12. September 1906

Was das „Kaufbeurer Anzeigeblatt“ nicht schrieb, ergänzte der Pathologe, Medizinalrat Riegel aus Kempten, später vor dem Schwurgericht Augsburg: Balbina Kögel war erstickt, weil das Blut aus zwei Schnitten im Hals, „beginnend am rechten Ohrläppchen fast bis zur anderen Halsseite“, in Luftröhre und Lunge geflossen war.
Balbina Kögel war mit dem Zug aus Holzheim (bei Rain am Lech), wo sie ihren zweiten Sohn, den dortigen Pfarrer besucht hatte, am frühen Abend in Kaufbeuren angekommen und auf ihrem Fußweg ins zwölf Kilometer entfernte Blöcktach kurz vor dem Pfarrhof, ihrem Zuhause, Opfer der „bestialischen Tat“ eines „Scheusals“ geworden. „Furcht und Schrecken“ in der Region spürte eine Lokalzeitung, übertroffen bei manchen nur noch von der Anteilnahme mit den Söhnen. Der Friesenrieder Pfarrer schrieb in seine Chronik:„ Ich habe niemals in meinem Leben einen Mann so herzerweichend weinen sehen, wie  den sonst ziemlich kalten priesterlichen Freund in Blöcktach, als ich ihm an diesem Tage Worte des Trostes zusprechen wollte. Und kaum eine Beerdigung habe ich gehalten, wo es über der ungeheuren Trauermenge so schwer lag, wie damals am Freitag, dem 14. Sept. 1906, bei derjenigen der guten Pfarrmutter von Blöcktach. Wer war der Täter, war jetzt die Frage.“
Schon unmittelbar nach der Tat fiel der Verdacht auf einen seit drei Wochen flüchtigen Patienten der Heilanstalt Kaufbeuren; Polizei und Feuerwehren von elf Gemeinden durchsuchten tagelang Hütten und Strohhaufen, Felder und Wälder in ihrer Umgebung. Während der Beerdigung verhaftete die Polizei bei Obergünzburg einen „sehr verdächtigen Gauner“, zwei Tage später in Eggenthal einen Landstreicher; beide kamen bald als erwiesen unschuldig wieder frei. Auch ein von den Bezirksämtern Kaufbeuren und Markt Oberdorf angeordnetes sogenanntes „Kesseltreiben“ zwischen Blöcktach und Irsee von 900 Männern mit Schusswaffen, Heu- und Mistgabeln blieb erfolglos. Am 18. September veröffentlicht die Staatsanwaltschaft Kempten einen Steckbrief des entflohenen Patienten und bittet alle „um Spähe und Festnahme“. In einem Blöcktacher Wirtshaus gehen derweil die Verhöre von Zeugen und Verdächtigen weiter. Mitte Oktober verbreitet sich das Gerücht, die Polizei habe den Mörder; es sei ganz sicher ein Sohn des Sägers in Blöcktach. Doch die Ermittlungen bestätigen sein Alibi. Dringend verdächtig ist nun ein weiterer Landstreicher; auch er kann seine Unschuld beweisen. Als sich herausstellt, dass auch der von Anfang an gesuchte „Irrsinnige“ aus Kaufbeuren am 11. September weit vom Tatort entfernt im Zusamtal war, glauben die meisten, der Schuldige bleibe für immer unentdeckt, „die furchtbare Tat“ ungesühnt.
Zwei Monate nach seinem Verbrechen verriet er sich selbst: Am 8. November bat der im Gefängnis Stadelheim (bei München) wegen eines Fahrraddiebstahls einsitzende ledige Bäckergeselle Johann Lingg aus Friesenried seinen Mithäftling Franz Diepold, dessen Strafe am nächsten Tag endete, seiner (Linggs) Familie schriftlich eine Nachricht zukommen zu lassen: Er sei beunruhigt wegen der fortdauernden Suche nach Balbina Kögels Mörder; sein Bruder solle den Inhalt eines Koffers auf dem Dachboden vernichten, er könne Fremde auf falsche Gedanken bringen; seine Schwester solle bei einer eventuellen Befragung sagen, sie habe ihn am 11. September abends zur Post geschickt. Von sieben bis acht Uhr sei er dort gewesen und dann zuhause auf dem Sofa gelegen. Wenn alles erledigt sei, möge ihm der Vater einen Brief mit dem Kürzel O. D. (oder O. B.) schicken. Diepold spürte, dass hinter diesem Wunsch mehr stecken musste als der Wille, alte Sachen zu entsorgen oder möglichen falschen Verdächtigungen vorzubeugen. Warum er sein Misstrauen und das Gespräch mit Lingg bzw. Notizen davon der Polizei in Wolfratshausen mitteilte, hat er nie gesagt. Diese jedenfalls informierte Kollegen im Ostallgäu. Am 13. November, während das Dorf eine Nachhochzeit und den Veteranenjahrtag feierte, öffneten Gendarmen aus Aitrang und Kaufbeuren mit dem Friesenrieder Bürgermeister den Koffer und fanden dort ein Portemonnaie, eine Brosche (Halbmond) sowie ein blutiges Taschentuch mit dem Monogramm „B. K.“: Besitz der toten Balbina Kögel. Linggs geachtete Familie und viele in der Region sind entsetzt und fassungslos, „Scham, Zorn, aber auch Ruhe ergriff die Herzen“, notiert der Ortspfarrer.
Lingg gesteht nach kurzem Leugnen beim ersten Verhör am 24. November in Stadelheim. Am nächsten Tag beginnt er plump und durchschaubar planvoll, den Unzurechnungsfähigen zu simulieren, und klagt über Kopfweh und Wahnvorstellungen. Auch im Gefängnis in Kempten, wohin er bald verlegt wird, redet er wirr, behauptet, vom 11. September nichts mehr zu wissen, und kommt daher vom 26. Januar bis 9. März 1907 zur Untersuchung in die Heilanstalt Kaufbeuren. Laut ihrem Gutachten ist der Beschuldigte „zwar ein geistesschwacher und gemütsstumpfer Mensch, leidet aber nicht an krankhafter Störung des Geistes“.
Am 5. Juli 1907 verhandelt das Schwurgericht in Augsburg seinen Fall.
Anfang eines Artikels aus dem 
„Kaufbeurer Anzeigeblatt“ v. 6. Juli 1907

Ein Reporter im überfüllten Gerichtssaal - viele Neugierige hatten keinen Platz bekommen – sieht einen jungen, mittelgroßen Angeklagten, „gutgebaut …mit stark gelichtetem Haar und anscheinend etwas stumpfsinnigem Gesichtsausdruck“; Zeugen charakterisieren ihn als nicht besonders anhänglich in der Kindheit (Vater), später leicht erregbar, schwerfällig und etwas sonderbar (Kamerad beim Militär), diszipliniert und sehr weichherzig (Vorgesetzter beim Militär), unsicher-verschlossen (Lehrherr), heimtückisch (Bürgermeister), geistig schwach, aber gutmütig und harmlos (Lehrer).

Linggs Angaben sowie weitere Aussagen der 16 Zeugen und drei Sachverständigen im Vorfeld und Verlauf des Prozesses erhellen Biografie und Motiv des Beschuldigten, klären die Tat aber nicht vollständig: Der 1882 geborene Bauernsohn kommt als Schüler mit Eltern und sieben Geschwistern von Leuterschach (Ostallgäu) nach Friesenried; 1899 stirbt die Mutter, 1902 beendet er seine Bäckerlehre, vor und nach dem Militärdienst arbeitet er an verschiedenen Orten in Deutschland und der Schweiz. Als er im Sommer 1906 auf Bitten des Vaters heimkommt, um bei der Ernte zu helfen, hat er kaum Geld. Für die (angeblich) geplante Meisterprüfung oder Konditorenlehre braucht er aber einiges. Der Vater gibt ihm keines und darum bitten will er ihn nicht, um weiterhin als sparsam zu gelten. Am 2. September stiehlt er deshalb in Aitrang ein Fahrrad; sein aus der Schweiz mitgebrachtes will er am 11. September nach Feierabend im sechs Kilometer entfernten Eggenthal verkaufen. Auf dem Weg dahin sieht er vor Blöcktach eine Frau gehen und beschließt sofort, sie auszurauben. Was dann etwa um halb acht passierte, erzählte Lingg mehrmals in unterschiedlichen Versionen, keine konnte das Gericht ganz bestätigen oder widerlegen. Unstrittig sind Raub und Tötung, möglich bleiben eine Vergewaltigung oder eine sexuelle Leichenschändung. Dem Untersuchungsrichter und seinem ersten Verteidiger (er muss sich später vertreten lassen) liefert der Angeklagte folgende Geschichten:
Er packt die Frau am Arm, fordert Geld, sie wehrt sich, will wegrennen, Lingg sticht und schneidet ihr mit dem Taschenmesser in den Hals, nimmt ihre Schuhe, die Geldbörse mit 50 Pfennig, eine Brosche und ein Taschentuch. Ihr Schreien (oder Röcheln) versetzt ihn in Panik, und er tötet sie, um nicht entdeckt zu werden. Teile des Unterleibs und des rechten Oberschenkels schneidet er weg, „damit sie besser ausblüte“. Im Bach neben der Straße wäscht Lingg seine blutigen Hände und packt neben der Beute auch Fleischstücke ein, die er auf dem Heimweg wegwirft. Zuhause reinigt er sich und seine Kleidung und geht ins Bett.

Vor Gericht will Lingg sich so wenig erinnern wie seit Dezember : Er wollte die Frau ausrauben, sie nannte ihn beim Namen, und das habe ihn so verstört, dass er vom übrigen Abend nichts mehr wisse. Erst als am Tag danach alle über einen Mord sprachen, sei er sicher gewesen: Das war ich.

Gravierend anderes erzählte Lingg einem Pfleger in der Heilanstalt Kaufbeuren, was dieser dann als Hauptbelastungszeuge bei der Verhandlung weitergibt: Danach hat der Angeklagte sein Opfer sofort als die Mutter des Blöcktacher Pfarrers erkannt, bei ihr Geld vermutet und die Sterbende oder schon Tote nicht nur beraubt, sondern auch vergewaltigt. Weil er sich im Falle einer Entdeckung dafür mehr schämen würde als für Raub und Mord, verstümmelte er die Leiche, um Spuren zu tilgen. Er sei dabei „ganz kalt gewesen und hätte die Frau gleich ganz vermetzgen können“. Allerdings meint ein anderer Zeuge, dieser Pfleger übertreibe gerne, um sich wichtig zu machen. Tatsächlich hatte die Obduktion keine Hinweise auf ein Sexualdelikt ergeben.

Keine Rolle vor Gericht spielte jene Version, die der damalige Pfarrer von Friesenried überliefert; danach sah Lingg „eine Frau in Richtung Blöcktach gehen …, wollte dieselbe verfolgen. Er fuhr ihr mit dem Rade nach, und holte eine Frauensperson (aber nicht die er gesehen, die war schon in Blöcktach) … ein, überfiel sie, und als sie schrie und ihr Geld nicht hergeben wollte, schnitt er ihr den Hals durch mit einem einfachen Messer. Da der Postomnibus in der nun einsetzenden Nacht jeden Augenblick von Friesenried her vorbeikommen musste, fuhr er mit seinem Rade wieder heimwärts, ganz in der Nähe des Postillions vorbei, der ihn aber nicht erkannte und auch die Leiche nicht bemerkte. Nachdem der Mörder zu Hause seine jüngeren Geschwister zu Bett gebracht hatte, begab er sich wieder an den Ort seiner Bluttat, nahm seinem toten Opfer Geldtasche, Taschentuch und Schuhe, und verging sich noch an der Toten. Er schnitt ihr sogar die Geschlechtsteile aus, um sie mitzunehmen.“

Ab dem 12. September beteiligt sich Johann Lingg eifrig an der Suche nach dem Täter, Ende des Monats fährt er mit seinem Fahrrad und sechs bis acht Mark nach Augsburg, findet keine Arbeit, stiehlt dort am 8. Oktober ein weiteres Fahrrad, fährt damit nach Dachau, wird dort verhaftet, in München zu fünf Wochen Gefängnis verurteilt und nach Stadelheim verbracht, wo er sich schließlich verrät.
Sein Verbrechen gehört zu den spektakulärsten in Schwaben zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allein vier Augsburger Tageszeitungen berichteten jeweils auf mehreren Seiten über den Prozess, der nicht mit dem erwarteten Todesurteil endete, sondern mit einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.
Die Geschworenen folgten damit den Gutachtern, die Lingg zwar für verantwortlich, aber geistig beschränkt und affektgeleitet hielten, sowie der Verteidigung, nach der er „zwar mit Vorsatz, aber ohne Überlegung“ handelte.
Johann Lingg starb am 12. März 1919 in Kaisheim.

Auf dem Friedhof in Blöcktach erinnert eine Tafel an Balbina Kögel.

1922 erschien das "Stadelheimer Tagebuch" von Ludwig Thoma (1867-1921). Der hatte im dortigen Gefängnis am 16. Oktober 1906, wie die Münchner Neuesten Nachrichten am selben Tag noch meldeten, eine sechswöchige Haft angetreten, "welche ihm wegen Beleidigung von Vertretern der Sittlichkeitsvereine durch die Stuttgarter Strafkammer zuerkannt wurde."
Zum Samstag, 17. November 1906 schreibt Thoma: "Am Morgen starker Wind; in der Nacht hatte es geregnet. Als ich mit Hintermaier [Wachmann] in den Hof ging, winkte er mir im Parterregange und zeigte nach einer Zelle (Nummer 5). Im Hofe sagte er mir, da drinnen sitze der Bäckergeselle Johann Lingg, der die Pfarrermutter Kögel in Blöcktach ermordet habe. Er hat sich durch einen Brief selbst verraten. Hier sitzt er wegen Fahrraddiebstahls. Nachmittags ließ mich Hintermaier einen Blick in die Zelle werfen. Der Bursche saß aber mit dem Rücken gegen uns, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Noch weiß er nicht, daß sein Brief in die Hände der Behörde gekommen ist."
Am nächsten Samstag: "Schönes Wetter; doch Nebel bis gegen Mittag. Der Bäckergeselle Lingg weiß nunmehr sein Schicksal. Er ist heute vernommen worden; den ganzen Tag."

© Ernst T. Mader, August 2011
Eine gekürzte Fassung erschien am 9. September 2011 in der Allgäuer Zeitung.

Dienstag, 3. Mai 2011

Tschernobyl 25

Als auch in Schwaben für kurze Zeit vieles anders war. 
Eine Erinnerung nach 25 Jahren

Anfang 1986 flog er hin, an Ostern wollte er im ersten Urlaub heim nach Ottobeuren; im sowjetischen Mogilev, etwa 400 km nördlich des damals nicht nur im Schwäbischen unbekannten Tschernobyl, gehörte der Ingenieur Willi Bielstein zu einer Gruppe, die für ihren deutschen Arbeitgeber in den nächsten zwei Jahren ein Chemiefaserwerk aufbauen sollten. Weil ihr Mann den versprochenen Urlaub an Ostern nicht bekam, flog seine Frau Hildegard zu ihm nach Weißrussland; am Dienstag, den 29. April, zwei Wochen nach ihrer Ankunft, hörten sie in der Deutschen Welle die Nachricht vom havarierten Reaktor in Tschernobyl – sowjetische Medien brachten dazu nichts, das Leben in Mogilev ging wie anderswo seinen gewohnten Gang; den Bielsteins aber war klar: Wir müssen hier weg. Hildegard konnte mit anderen Frauen und Kindern von Deutschen schnell über Wien nach Deutschland, ihr Mann erst am 2. Mai über Basel, nachdem er unterschrieben hatte, gegenüber der Sowjetunion auf Entschädigung wegen Folgen der atomaren Explosion zu verzichten, von der die Menschen in Mogilev auch nach einer Woche noch nichts wussten. Die Bielsteins trafen sich im Kernforschungszentrum Karlsruhe wieder, von wo sie nach einigen Untersuchungen tags darauf nach Ottobeuren zurück konnten. Nach Weißrussland, wo heute noch weite Landstriche verstrahlt sind, ging Willi Bielstein trotz der dringenden Bitten seiner Firma nicht mehr; er weiß, dass Kollegen, die es taten, inzwischen zum Teil an Leukämie gestorben sind.
Noch näher an der Katastrophe waren zehn Mitarbeiter von Hoechst in Bobingen; zum Zeitpunkt der Kernschmelze in Tschernobyl arbeiteten sie 150 km entfernt auf einer Baustelle, ohne etwas vom Größten anzunehmenden Unfall (GAU) in der Atomindustrie zu bemerken oder davon zu hören. Erst Anrufe aus der Heimat informierten sie darüber, Hoechst organisierte umgehend einen Rückflug und beließ fünf weitere Beschäftigte, die am 4. Mai zur Arbeit in die Ukraine sollten, in Bobingen.

Sie konnten den Heimkehrern von den vergangenen Tagen zuhause erzählen, vom letzten Samstag, 26. April, den nur noch am Alpenrand ein Föhn aufheiterte, ansonsten regnete es; man redete unter anderem über den Tod von Hermann Gmeiner, der 1955 in Dießen am Ammersee das erste SOS-Kinderdorf Deutschlands gegründet hatte und am vergangenen Samstag verstorben war. Am 29. April brachten die Medien kurze Hinweise auf ein „Unglück in einem Atomkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl mit möglicherweise schweren Folgen“, und das Wetteramt München kündigte schöne Tage an: „Der Mai soll seinem Ruf als Wonnemonat gerecht werden und aufholen, was der April versäumte.“
Am 30. April meldeten Agenturen den GAU: Der Kern einer der vier Reaktoren in Tschernobyl sei durchgeschmolzen, „vermutlich am Samstag“, zwei Menschen dort seien tot und Behörden zufolge „bestehe für Bayerns Bevölkerung keine Gefahr“. Auch in der Augsburger Allgemeinen zu lesende Gerüchte nannten weit höhere Zahlen. Nach heutigem Wissen explodierte der Reaktor am 26. April um 1.23 Uhr; im Raum Tschernobyl starben 31 Menschen in den ersten drei Monaten, die Krebsrate bei Kindern stieg auffällig, mehr als eine halbe Million Helfer (sog. Liquidatoren) wurde invalide und die Region auf Jahrzehnte radioaktiv verseucht.
Als westliche Medien die erste knappe Meldung über die Katastrophe brachten, zog die radioaktive Wolke schon über Bayern, und ein Tief aus Italien ließ sie ihr langlebiges Cäsium 137 vor allem ins Land südlich der Donau abregnen. Gundremmingen maß am 30. April das Dreifache des mittleren natürlichen Strahlungspegels, die Schwaben standen ahnungslos radioaktiv durchnässt um ihre Maifeuer und freuten sich auf „eine milde Ostströmung unter zunehmendem Hochdruckeinfluss“. Die werde dann, wie man am 1. Mai hörte,  „in den nächsten Tagen weitere radioaktive Luft nach Süddeutschland und in die Schweiz treiben“, von Risiken aber war keine Rede. Eine Familientherapeutin aus dem Raum Obergünzburg und Mutter dreier damals kleiner Kinder erinnert sich: „Nach dem verregneten Aprilende lockte die Sonne ab dem 1. Mai die Kinder natürlich ins Freie. Ich weiß noch, wie sie im gerade wachsenden Gras und im Sandkasten spielten, und zwei Tage später hab ich dann erfahren, dass ausgerechnet Sandkästen besonders verstrahlt seien. Da war es schon passiert. Unseren Sand ließ ich untersuchen; seine radioaktive Belastung war am 10. Mai 25 mal höher als der Normalwert. Wir haben ihn dann ausgetauscht und das Beste gehofft.“

Vom 30. April an beherrschte „Tschernobyl“ einen Monat lang die vorderen Seiten der Augsburger Allgemeinen wie die Topplätze anderer Medien, erst am 29. Mai setzte sie keinen Beitrag mit Bezug zur Katastrophe in der Ukraine oder der deutschen Atomdebatte auf die Titelseite. Auf Fußballplätzen und in Bäckereien sprachen Menschen statt über Abseitsfallen und Semmeln  von Rem und Becquerel, Sievert und  Halbwertzeiten.

Seit Anfang Mai darf Frischmilch ab einem bestimmten Grad an radioaktiver Verstrahlung (Jod 131-Aktivität über 500 Becquerel) nicht mehr in den Handel kommen, die Allgäuer Bauern werden vom Tiergesundheitsdienst aufgefordert, Kühe nicht auf die Weide zu treiben und ihnen kein frisch gemähtes Gras zu füttern. Nicht alle Bauern halten sich daran, weil Silofutter mancherorts aufgebraucht ist. Und es gibt im Allgäu niemanden, der Radioaktivität in der Milch messen kann; die zuständige Milchwirtschaftliche Untersuchungs- und Versuchsanstalt in Kempten teilt mit: „Wir können nur feststellen, wenn es den Bauern reinregnet in die Milch, aber nicht, wenn es reinstrahlt.“ Proben werden deshalb ins AKW Gundremmingen geschickt,  sie enthalten neben „völlig ungefährlichen Werten“ zum Teil mehr als das Dreifache des angeblich unbedenklichen Becquerel-Wertes. Die Leute reagieren verschreckt oder vorsichtig, die Molkerei Müller (Aretsried) erklärt Milch für „unbedenklich“, aber ihr Verkauf bricht ein,  im Allgäu und bei der Augsburger Cema zum Beispiel geht er schlagartig um die Hälfte zurück – wie der Absatz von Blattgemüse beim Gemüse-Großhändler Alfred Stölzel in der Fuggerstadt, der „gewaltige Einbußen“ spürt. Hingegen sind Eier aus Legebatterien, Hühner aus Massenhaltung und Gemüse aus dem Treibhaus gefragt, am liebsten in Dosen – was draußen rumläuft und unter freiem Himmel wächst, meiden viele Kunden; so trifft die atomare Katastrophe ausgerechnet die ersten Bio-Bauern südlich der Donau am härtesten – und sie motiviert zu einer großen Demonstration in Augsburg am 10. Mai: „Tschernobyl ist überall – Ausstieg aus der Atomtechnologie“. Andere finden höheren Orts Trost: Eine schwäbische Vegetarierin beruhigt der bayerische Umweltminister Dick bei einer Telefonaktion mit dem neckischen Hinweis: „Sie fressen doch kein Gras.“ Und Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle aus Kempten macht für seine etwa 13.000 Allgäuer Milchbauern rund zehn Millionen Mark locker,  die der Staat noch im Juni als Entschädigung für entgangene Einnahmen ausbezahlt.
(Der Bund zahlt übrigens auch heute – 25 Jahre nach der Katastrophe – noch für deren Folgen: nach Angaben des Umweltministeriums bis Ende Juni 2010 insgesamt 238 Millionen Euro, z.  B. an Jäger, wenn sie erlegte Wildschweine wegen deren Strahlenbelastung nicht verkaufen können. )

Während die Behörden zunehmend Entwarnung geben - Bayern erlaubt z. B. Mitte Mai den Bauern die Grünfütterung wieder – , die radioaktive Wolke nach einer Erdumrundung abgeschwächt wieder über Westeuropa zieht und Roy Black in Bad Oy (Ostallgäu) am Pfingstsonntag für Unterhaltung sorgt, wächst die Besorgnis der Bevölkerung, und ihre Aktivitäten nehmen zu: Inge Aicher-Scholl und ihr Mann Otl Aicher aus Leutkirch organisieren gegen die Befürworter der AKWs eine ganzseitige Anzeige in der ZEIT vom 23. Mai. Ärzte in Schwaben warnen mit einer Kampagne in der regionalen Presse vor Spätschäden durch radioaktive Strahlen, gegen die sie „machtlos“ seien. Ortsverbände von SPD und Grünen plädieren für den Ausstieg, während die Union „unbeirrt auf Kernkraft setzt“. Die Wickert-Institute in Illereichen ermitteln, dass 68 Prozent der Bundesbürger amtlichen Angaben zu Atomgefahren  „gar nicht“ trauen.
Viele, vor allem stillende Mütter und Schwangere, wollen wissen, was zu tun sei, und werden auf Trockenmilch bzw. Milchpulver verwiesen, woraufhin ein Ansturm auf diese Produkte einsetzt. Pfadfinder sagen ihre Pfingstlager ab, Privatinitiativen messen in manchen Dörfern die Strahlung in Gullys, leeren sie mit dicken Handschuhen und entsorgen den Schlamm an schwer zugänglichen Orten, da die Behörden völlig überfordert und zu keinem Rat in der Lage sind. Beschäftigte im Atomkraftwerk (AKW) Gundremmingen rechnen mit der baldigen Stilllegung der Anlage, doch beunruhigt sie weniger die behauptete Energielücke in Deutschland als die dann reale Lücke in ihrem Geldbeutel. Manche befällt die schiere Panik: Werde ich entlassen? Kann ich meine Kredite noch bedienen? Muss ich mein Haus verkaufen? Anderen macht gerade der Weiterbetrieb des Meilers Sorgen: Am 27. Mai sprechen Ärzte im Kurtheater Bad Wörishofen zu einem verunsicherten Publikum über radioaktive Strahlung.
Ab 31. Mai bringt die Fußball-WM in Mexiko Ablenkung (an ihrem Ende ist Deutschland Vizeweltmeister nach einem 2:3 gegen Argentinien), doch verhindert sie nicht Fragen, die auch ansonsten stille Winkel beunruhigen; im Ostallgäuer Blöcktach ist bei einem Informationsabend mit einem Arzt am 12. Juni die Wirtschaft voll;  ein Plakat an der damaligen Käsküche zeigt, was die Menschen umtreibt: Sind wir akut bedroht? Welche Langzeitfolgen sind zu erwarten? Sind Atomkraftwerke sicher?  Vor Beginn der Hüttensaison macht die Strahlenangst der Wanderer den Wirten Sorgen, der Alpenverein will mit Messungen alle beruhigen. An der Memminger Hütte über dem Lechtal stellt er keine kritischen Werte fest.
Für Unmut und Nervosität bei der Stadt Kaufbeuren sorgten Plakate und Flugblätter eines Prof. Dr. Cerno Bühl, der sich als „wissenschaftlicher Berater“ der Kommune an die Öffentlichkeit wandte: „Um Ihnen Klarheit über das Ausmaß der radioaktiven Belastung Ihrer Abfälle zu verschaffen, untersuchen wir diese kostenlos.“ Man möge sie beim „Strahlenservice“ im Rathaus vorbeibringen. „Oberbürgermeister Rudolf Krause“, hieß es am 22. Mai in der Allgäuer Zeitung (AZ), „war verärgert über diese ,Machwerke‘. Der Anlass für die Aktion, die radioaktive Belastung von Grasschnitt, Sand, Gartenerde und geerntetem Gemüse, sei ,traurig genug. Dass jetzt ein paar Wirrköpfe die Kaufbeurer Bürger durch falsche Informationen irreführen wollen, finde ich geschmacklos.’“ Krause musste der AZ gegenüber dann allerdings einräumen, dass die Stadt keine Möglichkeit habe, radioaktive Abfälle zu untersuchen. Eine Woche später lässt die Leserbriefseite Sympathien für Prof. Dr. Cerno Bühl erkennen.
Knapp 50 Jahre vorher hatte andernorts die deutsche Luftwaffe Verderben von oben gebracht: Am 26. April 1937 bombardierte die Legion Condor die baskische Stadt Gernika.
© Ernst T. Mader, April 2011
Eine gekürzte Fassung erschien am 21. April 2011 in der Augsburger Allgemeinen.