János Hoffmann: Nebelschleier (1940-1944) Notizen vor dem Holocaust in Ungarn

Nebelschleier

Aus den Aufzeichnungen von János Hoffmann
(Szombathely 1895 - Auschwitz 1944)

 János Hoffmann
 in den 1930er Jahren


Einführung
Als erstes Land in Europa nach dem Ersten Weltkrieg beschränkte Ungarn ab 1920 mit wechselnder Intensität den Hochschulzugang für Juden. Zwischen Mai 1938 und August 1941 verabschiedete das Parlament drei Gesetze, die die jüdische Bevölkerung gezielt und massiv diskriminierten. Nach der deutschen Besetzung Ungarns am 19. März 1944 ließ die neue, nazifreundliche Regierung unter dem Druck der deutschen Botschaft die jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammentreiben. Am 28. April 1944 begannen die Deportationen, offen mitgetragen von den ab Oktober regierenden Pfeilkreuzlern. Nach knapp einem Jahr, am erzwungenen Ende der Vernichtungsaktion, waren laut Holocaust-Gedenkzentrum Budapest zwischen 500.000 und 600.000 ungarische Juden (sowie unter anderem mehrere tausend Roma) ermordet, die meisten in sogenannten Konzentrationslagern, aus denen nur sehr wenige zurückkehrten.
   Unter den allerersten Deportierten war die alteingesessene Familie Hoffmann aus Szombathely  bzw. Nagykanizsa:  János Hoffmann, seine Mutter Regina, seine Frau Helén (Schütz) sowie die Kinder Sándor (Sanyi) und Judit (Juci), die als einzige aus der Familie und der weiteren Verwandtschaft überlebte, kamen nach Auschwitz.
   Dr. jur. János Hoffmann arbeitete nach Militärdienst sowie Studium in Wien und Budapest in der väterlichen Firma (Essigfabrik und Laden) in Szombathely, nach deren Ruin in der Weltwirtschaftskrise ab 1930 im Warenhaus des Schwiegervaters in Nagykanizsa.
   Kulturell prägten die Familie das Ungarische wie das Deutsche, nicht nur weil man mütterlicherseits mit Heinrich Heine verwandt war. Über seinen Vater schreibt János Hoffmann: “Er kannte die deutschen Klassiker auswendig, den ganzen Faust, auch Heine sehr gründlich, er wusste immer, aus welchem seiner Werke zitiert wurde. Er las aber genauso gerne die ungarischen Dichter Petőfi und Vörösmarty, er übersetzte einige Gedichte von Vörösmarty ins Deutsche, sogar sehr gut.” Dies prägte auch den Sohn, der 1940 ein Tagebuch beginnt; es zeigt von innen, im materiellen wie seelischen Detail den Alltag eines jüdischen Mannes, einer jüdischen Familie, eines jüdischen  Kosmos und deren allmähliche Zerstörung.  Die Eintragungen enden kurz vor der deutschen Besetzung Ungarns. Die überlebende Tochter bekam die Hefte 1945 von Nachbarn zurück,  denen sie der Vater vor der Deportation anvertraut hatte.
   In einem Interview 1999 für Steven Spielbergs Shoa-Foundation erwähnt Judit Varga-Hoffmann beiläufig  auch die Notizhefte ihres Vaters; in Zusammenarbeit mit der Stadt  Szombathely können sie 2001 als Buch erscheinen (Ködkárpit); dieser Blog macht Teile davon zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich. Für die freundliche Genehmigung danke ich Judit Varga-Hoffmann sehr herzlich.
Ernst T. Mader


Aus den Notizheften

Meine lieben Kinder,
ich begann mit dem Schreiben im Monat Oktober des Jahres 1940, in jener Zeit, die mein Vetter Aladár in einer Notiz, die mir dieser Tage in die Hände kam, finster-bedrohlich nennt. ... Ministerpräsident Teleki verkündete in diesen Tagen das dritte Judengesetz. Welche neuen Erniedrigungen und Entrechtungen wird es wieder bringen, wie viele Menschen werden dadurch zu Habenichtsen, zu Bettlern? Eigentlich stelle ich mir noch jetzt oft vor: Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein, das ist vermutlich nur ein böser Traum; die Erinnerungen an die finsterste Vergangenheit werfen auf unsere Zeit ihren traurigen Schatten. So muss die Gefangenschaft in Ägypten gewesen sein.

17. Oktober 1940
Die gestrige Zeitung brachte die Liste der 65 christlichen Kaufleute, die in Nagykanizsa den neuen Gewerbeschein für Brennholzhandel erhalten haben. Laut einer vorangegangenen Anordnung dürfen Juden nicht mehr im Brennholzhandel tätig sein, sie haben nur einige Monate zugestanden bekommen, ihre Vorräte loszuwerden. Im Komitat Vas hat der Vizegespan (der zweithöchste Verwaltungsbeamte) den Juden verboten, an den Jahrmärkten teilzunehmen. Juden dürfen also ihre Waren nicht ausstellen.
   Heute wurde bekannt, dass wegen “Umgehung” des Judengesetzes 50 bis 60 ortsansässige Kaufleute (darunter auch einige Christen) zu 8 bis 14 Tagen Haft und 40 bis 1000 Pengő [ungarische Landeswährung 1927-1946] Geldstrafe verurteilt wurden. Größtenteils haben sie ihre Meldungen verspätet, ungenau oder nicht auf dem vorgeschriebenen Formular eingereicht.
   Mein Schwager Faludi Feri wurde ins Arbeitslager nach Gödöllő einberufen. Sein eigenes Schicksal wird nicht sehr hart sein, er ist Oberleutnant, mein anderer Schwager Zsiga ist in Sáska, in der Nähe von Tapolca, mein Cousin Guszti irgendwo im Komitat Pest, Schwartz Laci in der Nähe von Vác, Szönyi Laci auch in Gödöllő. Fast alle männlichen Mitglieder unserer Familie verbringen also ihre Zeit in Arbeitslagern. Wie lange kann das jemand wirtschaftlich und seelisch ertragen?
   Mich hat es auch getroffen, zum Glück nur zehn Tage. Ich war im Juli in Sárvár. Vielleicht schreibe ich später darüber.
Das größte Ereignis meiner Kindheit war die Ankunft meiner amerikanischen Cousins. Der älteste Bruder meines Vaters, Sándor, war nach vielen misslungenen Versuchen in die Neue Welt ausgewandert und hatte dort eine Familie gegründet. Er war ein glückloser Mensch und kam auch dort nicht nach oben. Seine fünf Kinder zu ernähren war er nicht imstande, darum schickte er um die Jahrhundertwende seinen ältesten Sohn William und seinen Jüngsten, Sidney, heim nach Szombathely. Hier lebten die kinderlose Schwester meines Vaters, Tante Giza, ihr Mann Hermann Strasser,  Mitinhaber der auch heute noch blühenden Firma Deutsch József & Co., und der kinderlose Bruder, mein Onkel Henrik Hoffmann, neben meinem Vater Mitinhaber der Firma Samu Hoffmann & Co. Die beiden Geschwister hatten sich bereit erklärt, die Erziehung der amerikanischen Kinder zu übernehmen. Es war ein kalter Wintertag mit Schneegestöber, als wir auf ihre Ankunft warteten – meine Eltern und Verwandten ungeduldig, ich aber aufs Äußerste gespannt und aufgeregt. Es war schon später Abend, als der schwarze Wagen mit dem Lederdach durch das Tor hereinrollte und zwischen einer Unmenge von Gepäckstücken und Reisesäcken der neue Verwandte, der heiß ersehnte exotische Spielkamerad auftauchte, der Sechsjährige, der zwei Jahre ältere Kumpel. Die Tanten und Onkel umringten und umarmten das arme, erkältete, erschrockene und erschöpfte Kind. Ich drängelte mich durch sie hindurch und kam schließlich in seine Nähe. Als erstes tastete ich seinen Kopf ab: Ich suchte unter seinen Haaren nach den Löchern, in die den amerikanischen Indianerkindern die legendären Adlerfedern gesteckt wurden. Ich war sehr enttäuscht, als ich die Stelle für die Adlerfeder nicht fand, ernüchtert von dem „Indianer“-Verwandten, und es tröstete mich wenig, dass William – damals etwa achtzehn – mir die USA-Fahne zeigte, tätowiert auf seinem vor Kraft strotzenden Arm. (…)
Ich war etwa acht Jahre alt, Sidney zehn, als er von seinem Vater, also von jenseits des Ozeans, ein wunderbares Geschenk erhielt: ein kleines, rot lackiertes Kinderfahrrad. (…) Alle Kinder in der Straße lernten damit das Radfahren, und diese ausgezeichnete Maschine hielt alles aus. Einige Male fuhren wir zu zweit los und machten in Begleitung von Willi[am] einen Ausflug bis Kőszeg, unser täglicher Weg aber war der zur „Villa“. Tante Gizas Mann hatte am unteren Ende der Kalvariastraße ein wunderschönes Grundstück gekauft, dort eine riesige Villa gebaut, und die war nun Sidneys Wohnung geworden. Wir radelten glücklich durch die lange Kalvariastraße, zu zweit, wie meistens; aber dort waren wir Fremde – die neidischen Lümmel der Kalvariastraße warfen des Öfteren etwas nach uns, und dort hörte ich zum ersten Mal das Schimpfwort: „Jude“!! Das war meine erste Begegnung mit dem Antisemitismus.

24. Januar 1941

Helén [Foto: Jenő Knebel, 1922] ist in Szombathely, sie hat sich heute Abend das Konzert von Alice Bárdos angehört, und ich, der Strohwitwer, bin ins Kasino gegangen. [Die Violinvirtuosin, verheiratet mit einem Schulfreund von János Hoffmann, starb in einem Konzentrationslager in Deutschland.] Die Frauen spielen Karten, die Männer spielen Karten, fast niemand unterhält sich. Es herrscht eine gedrückte Stimmung, manchmal hört man überraschend doch ein launiges Wort, manchmal lacht sogar jemand – es ist beinahe unverständlich, wie man immer noch lachen kann, wie man ohne jede Aussicht auf Hoffnung leben kann. Unsere rechtliche Stellung und damit unsere wirtschaftliche Lage verschlimmerte sich in den zwei letzten Jahren von Tag zu Tag, unser Schicksal ist unsicher, und wenn wir in unsere Nachbarländer schauen, dann sind die Beispiele erschreckend. Und wir können nichts dagegen tun, es gibt keine Möglichkeit uns zu helfen. Manche dachten früher an Auswanderung, die Mutigeren wagten diesen kühnen Schritt sogar, wenn aber jemand die Heimat wechselt, muss er auch seine Seele wechseln. Viele suchten im Konvertieren Trost oder vielleicht besser gesagt: ein Narkotikum. Heute sind alle Schranken heruntergelassen, der Kreis wird immer enger, und wenn wir manchmal in unserem Optimismus glauben, die angespannt-quälende Atmosphäre habe sich doch etwas gebessert, vertreiben die Tatsachen, das heißt die behördlichen Anordnungen, die nebligen, zum Rosigen neigenden Bilder unserer Wunschträume.
   In den letzten Tagen habe ich folgendes Gedicht von Magda Bethlen gelesen. [M. B. kam in Szombathely zur Welt und lebte in Budapest. Das Gedicht erschien am 19. Januar 1941 in Újság.]

Geständnis

Ob ich sie liebe?
Ja. Ich bete sie an.
Auch wenn ich es nicht in die Welt hinausschreie,       
Fühle ich doch in mir:
Wir sind gänzlich verbunden,
Ohne sie gibt es kein Leben,
Wohin das Schicksal mich auch führt.
Ob sie mir manchmal Schmerzen bereitet?
Gewiss.
Es lebt aber in meinem Herzen der Trost,
Dass Freude und Leid
Einander ergänzen.
Wie könnte ich nun erklären,
Was alles für mich bedeuten
Der Zug der Wildgänse,
Das Rauschen der Buchenwälder.
Am Himmel die Haufenwolken
Auf Frühlingswiesen die bunten Blumen.
Die Stimmung des späten Sommers,
Woran zu denken mir
nicht mehr gestattet ist.
Die Glut über der Tiefebene
Das Fallen der Akazienblüten,
Der Geruch der Erde nach dem Regen
Der süße Duft des Jasmin.
Ein graues Haus, in dem ich
Jemanden
verlor, den ich sehr liebte.
Spielplätze im Sonnenschein,
Auf die ich nie mehr gehe,
Alte Bäume, die mich grüßen,
Weil sie mich seit langem kennen,
Seit ich Kind war.
Die Fata Morgana, die ich nie sah,
Die ich aber doch  so sehr zu sehen wünschte
Straßen, auf denen ich mich
nach längst entschwundenen Zeiten sehne,
Wenn ich sie gehe.
Ein Fenster, bei dem mich
die Erinnerungen bestürmen,
Wenn ich zu ihm emporsehe.
Das Gotteshaus, in dem ich mich trauen ließ
An einem Julimorgen
Der stille Friedhof,
Wo mein Vater ruht
Alles, alles bindet mich an dich:
Meine Heimat.
Hier wollte ich leben
Hier will ich sterben.
Ob ich sie liebe?
Ja, ich bete sie an.

Ich war ergriffen: Ja, so ist es, wir lieben diese Heimat, sie bedeutet uns alles: Vergangenheit, Erinnerung, das Grab der Eltern. Sie ist das Nest unseres Glücks. Hier möchten wir leben, hier liebend gerne sterben – und wie das Kind den strafenden Vater liebt, lieben, ja vergöttern wir diese Heimat. Wie lange aber kann die kindliche Liebe den Schmerz eines Peitschenschlags besiegen? (…)

12. Dezember 1942
Auch wenn es in Ungarn keine nur für Juden bestimmte Straße gibt, leben wir doch seit Jahren im Ghetto. Wir leben ausgeschlossen von der freien Luft, wir trauen uns so gut wie nicht auf die Straße und wagen es im wahrsten Sinne des Wortes nicht, laut zu reden. Wir teilen unsere Gedanken nur hinter gut verschlossenen Türen mit und nur den besten Freunden, morgens und abends schwebt uns nur der unsichere kommende Tag vor Augen. (…)
   Wir frieren im geheizten Zimmer, es schaudert uns, wenn wir ins glühende Feuer blicken, wir erstarren bei der Nachricht aus Polen: Tausende, Zehntausende, ja Hunderttausende, nach der Meinung von manchen sogar mehr als eine Million Juden sind dort umgekommen, bloß weil sie Juden waren. Und hier, zu Hause – ich lese die jüdischen konfessionellen Zeitungen, ich beobachte unsere jüdischen Schriftsteller: die besten erstarren, das Lied verstummt, die Feder ruht – diese peinliche, fürchterliche jüdische Existenz verfügt über keine Seeleninhalte mehr, sie ist nur noch öde Aussichtlosigkeit, ein Rennen nach dem täglichen Brot und das klare Wissen: Wer noch etwas hat, wird von Tag zu Tag ärmer, und die Not wächst. Wer ins Arbeitslager zieht, sorgt selbst für seine Kleidung, oft gibt er dafür die letzten Groschen aus – und wie wenige haben die Möglichkeit, sich entsprechend auszustatten, auch wegen Mangel an Stoff. Eine ausreichende Zahl an Decken bekommt man im ganzen Land nicht, in Nagykanizsa kaum eine oder zwei.
   Dieses Jammern könnte man endlos fortsetzen.
   Tag für Tag kommen die Nachrichten vom Tod junger jüdischer Insassen der Arbeitslager. Eine Meldung behauptet, einer sei den Heldentod gestorben, sechs oder sieben andere berichten, XY, zwischen 25 und 28 Jahre alt,  sei an Herzschwäche gestorben …
   Die Seele friert, und im Innern schluchzt eine Frage: Wozu das?! Uns selbst helfen können wir nicht, wir sind in diesem Ghetto eingesperrt; gibt es denn keine Rettung, keinen Weg, der ins Freie führt? Für uns gibt es keine Hilfe, nur ein Wunder. Wir existieren im Wartezustand: Wir warten auf ein Wunder; das muss so sein und bleiben, weil es keine Idee gibt, die uns tröstet, nur die H o f f n u n g.
   Wir haben keinen Glauben, wir haben keine Überzeugung, wir haben kein Bewusstsein von Rasse oder Volk (allenfalls sehr selten), so hält nur sie uns aufrecht… v i e l l e i c h t…
   Und wenn ich die jüdische Geschichte betrachte, so wiederholen sich die Katastrophen periodisch, die jüdische Geschichte ist eigentlich eine Geschichte von Katastrophen. Das Volk erscheint in der Katastrophe, im Sklaventum und in der Vertreibung. Und die fürchterliche Abfolge von Katastrophen setzt sich fort – wozu alles aufzählen: Finsternis, Betrübnis, Entsetzen, Verfolgung, Scheiterhaufen, eine Reihe gebeugter Wanderer und Weltenwanderer; Kreuzzügler, Kosakenpeitsche – und nur ganz wenig, aber sehr hell glänzendes Licht. Zwangsweise und freiwillig Abtrünnige treten aus der Reihe, bleiben zurück; Menschen, die das Schicksal eines Märtyrers nicht auf sich nehmen wollen und deren Ausscheiden vom Hohn derer begleitet wird, die dem Glauben treu geblieben sind. Wenn ich mich aber frage, was dann doch die Millionen in der überkommenen Reihe hält, warum sie jahrtausendelang den unendlichen, heimatlosen Weg der Juden gehen, was Bagradian bei seinem Volk hält, dann kann ich auf diese Fragen keine Antwort finden. [Gabriel Bagradian ist der Held in Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh", 1933. Er thematisiert die Verfolgung und Ausrottung der Armenier in der Türkei während des Ersten Weltkrieges.]
   Das Judentum zu erhalten kann das Ziel des Judentums sein, das jüdische Leiden aber nicht Aufgabe des einzelnen Juden, der sein Auskommen haben, vorankommen und in Ruhe leben will. Unser Leben hat kaum noch einen jüdischen Inhalt; die Melodie einiger alter Lieder, die uns aus der Kindheit in den Ohren geblieben ist, die komische Würze einiger althergebrachter Speisen, ein paar moralische Trivialitäten, die nicht stärker wirken als die durch die klassische Erziehung weitergegebenen moralischen Richtlinien, ein paar verblichene Bilder von Festen: das Brummen der Orgel, das Gemurmel der Greise - und doch, und doch: Hält das Millionen im Leiden zusammen!?  
  
   Und man muss leiden!! Mag sein, dass der selbstbewusste jüdische Staat die jüdische Heimat verwirklicht, und die Serie der Leiden beendet – irgendwie kann ich aber diesen Traum nicht richtig träumen. Ich habe es versucht, aber es ging nicht. Das Nordau-Buch von Béla Révész [1876-1944; „Das Leben von Max Nordau“ erschien 1940.] habe ich mit heller Freude begrüßt, ich glaubte, er könnte dort die Gefühle und die Gedanken von uns allen ausgedrückt haben. Nein. Ich kann an den Nationalismus nicht glauben, schon gar nicht jetzt, wo er in Europa mit einer bis zum Himmel lodernden Flamme alles verbrennt, was wir für menschliche Ideale hielten. Der hundert Jahre alte Nationalismus macht das Zusammenleben der Menschen unmöglich, er verhindert, dass die Nationen friedlich miteinander auskommen – das kann nicht der Weg in die Zukunft sein. Deshalb kann ich nicht einmal an den jüdischen Nationalismus bedingungslos glauben, ich sehe aber, dass Palästina das Leben von Zehntausenden gerettet hat, dass es das Vorankommen von Zehntausenden sichert. Für das Judentum führte die Assimilation – so wie wir sie in Europa praktiziert haben – in den Ruin. 
Es sieht so aus: Man kann dort nicht Jude b l e i b e n und Ungar sein w o l l e n. Dieser Dualismus bereitet uns ungeheure Schmerzen, diese Entwurzelung nimmt uns die Ideale – die Seele hat kein Ziel.

1943 (undatiert)
Die Frage der Konversion wurde bei uns – und wahrscheinlich auch in anderen Familien – in den Jahren 1938 und 1939 akut. Die Vorbereitungen des Judengesetzes waren schon im Gange.  (…)
    Es kamen die „Gutinformierten” und berichteten, dass das bevorstehende Gesetz Ausnahmen regeln werde, in erster Linie würden die Ausgetretenen in den Genuss einer besonders vorteilhaften Einstufung kommen. Der Rechtsanwalt unserer Familie – selbst auch Jude – brach ernsthaft eine Lanze für das eilige Konvertieren. (Nebenbei: Er ist auch heute noch Jude.) Es meldeten sich gutmütige und wohlwollende Christen und boten sich in guter Absicht als Paten an: Wenn schon wir, die Alten, uns nicht mehr dazu entschließen könnten, sollten wir es doch zulassen, dass die Kinder den geraderen und ebeneren Weg nehmen. Es waren überaus angesehene und seriöse Leute, deren Gutmütigkeit sich nicht bestreiten lässt, und an die ich sogar heute noch mit Dankbarkeit und einer Art Rührung denke. Es ist vielleicht angebracht, wenn ich bemerke, dass einer der Paten-Kandidaten mich kürzlich aufsuchte und im Gespräch zum Ausdruck brachte, dass wir damals richtig gehandelt hatten, als wir in unserem Judentum blieben, da das Konvertieren uns ohnehin nicht geholfen hätte. (…)
   Das Wiener Judentum mit seinen 4,5 Promille zum Christentum Konvertierten holte dasselbe Schicksal ein, es wurde von der gleichen Katastrophe heimgesucht wie die Juden in Lemberg mit 0,4 oder die in Warschau mit ihren 0,2 Promille Konvertierten; und es wurden nicht einmal die Gemeinden in Bels [Ost-Galizien] oder in Szadagora [Bukowina, berühmt wegen des dort wirkenden Wunderrabbi, Wallfahrtsort des orthodoxen Judentums] verschont, wo es so wenig Konvertierte gab, dass sie kaum gezählt werden konnten – wenn es überhaupt welche gab. (…)
Die Frage stellt sich so: Was wäre der richtige Weg, wenn die rechtlichen Beschränkungen entfielen, wenn es keine Judengesetze mehr gäbe – der Versuch der Assimilation durch Konvertieren oder die Übernahme des jüdischen Nationalismus mit zionistischen Zielen und Ideen?

Judit Varga-Hoffmann: Nachwort

Eines Tages im Herbst kam der Vater nach dem Abendessen nicht zum gewohnten Gespräch zu uns. Während wir, meine Mutter und ich, am Handarbeiten waren, setzte er sich an den Schreibtisch, nahm ein großes Heft mit kariertem Umschlag und begann zu schreiben. Mit meinen dreizehn Jahren wusste ich im Oktober 1940 nicht, dass etwas um uns herum nicht in Ordnung war, aber ich spürte es. Den Grund der bedrückten Stimmung, das Gesetz XV./1938 und das darauffolgende Ges. IV./1939, ahnte ich nicht einmal – so wenig wie den Umstand, dass diese Gesetze Bitternis in das normale Leben meiner Eltern brachten und bereits auf unser zukünftiges Schicksal hinwiesen.
   Dass mein Vater zu schreiben begann, bemerkte ich – ich wollte aber nicht erfahren, warum er sich mehr als drei Jahre immer öfter über die Hefte beugte. Ende Januar 1944 lag das letzte vor ihm, das fünfte, dessen Schrift und Stil die Verstörtheit wie die verzweifelte Anstrengung des Vaters anzusehen sind und die zugleich ausdrücken und verhüllen, was ihm auf Herz und Seele drückte. In seinen Aufzeichnungen wechseln sich aktuelle Ereignisse und erinnerte Vergangenheit ab. Sie sind Tagebuch und Erinnerung in einem, authentisches Dokument seines Lebens und Spiegel der historischen Wandlungen von der liberalen Ära seiner Kindheit unter Franz Josef bis zu den letzten Jahren der in den Faschismus mündenden Horthy- Epoche.
Bald nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen am 19. März 1944 mussten wir den gelben Stern tragen und lebten das in immer engere Grenzen gepresste Leben der Entrechteten. Wir  bemühten uns, Hab und Gut zu retten, brachten, was wir für sehr wichtig hielten, bei befreundeten Familien unter, die von den Judengesetzen nicht betroffenen waren. So wurden auch die fünf Hefte gerettet, die ich 1945 glücklicherweise zurückbekam, als ich aus der Deportation heimkehrte. Seither bewahre ich sie auf.
   Als ich zum ersten Mal in die von Vaters Hand geschriebenen Zeilen hineinlas, klappte ich das Heft schnell zu und legte alle fünf in das Regal zurück. Damals dachte ich, ein neues Leben zu beginnen sei für mich nicht möglich, ohne mit der Vergangenheit abzuschließen. Schon damals wusste und begriff ich, was sich hinter dem „Nebelschleier“ verbarg, den mein Vater zu Beginn seiner Aufzeichnungen erwähnte und der ihm – wie er es formulierte – die Zukunft verdeckte. Ich durchlebte die von ihm 1940 erahnte Zukunft. Ich überlebte, woran er zugrundegegangen war. Damals hatte ich das Gefühl, den Nebelschleier keinen Spalt lüften und nicht in jene Vergangenheit zurückschauen zu dürfen, in die mich seine Gedanken führten.
Jahrzehnte vergingen, bis ich mit zeitlichem und seelischem Abstand die Erinnerungen des Vaters lesen und beim Lesen seiner Erinnerungen und Bekenntnisse mein Bild von ihm aus Kindertagen neu formen konnte. Ich sah sein ernstes, besorgtes, etwas strenges, mich aber immer verstehendes Gesicht. Und hinter diesem Gesicht konnte ich meinen Vater erkennen, den Menschen, der an der Unbarmherzigkeit der Geschichte litt und im Ringen mit Zweifeln und Ängsten unter den Launen des Schicksals dahintrieb.
   Mein Vater, János Hoffmann, wurde 1895 in Szombathely geboren, in einer, man kann sagen, alteingesessenen Szombathelyer Familie; sie konnte sich nämlich bis zum Ururgroßvater meines Vaters zurückführen. Über diesen zur Zeit Josephs II. lebenden Menschen wissen wir nur so viel, dass er Ábrahám Hoffmann hieß und in Szentmárton, heute ein Teil von Szombathely, wohnte. Einer seiner Söhne, der Urgroßvater meines Vaters, trug den Namen Wolfgang Hoffmann (nach anderen Angaben Wolf Hirsch, Heinrich). Sein Sohn, der Großvater meines Vaters, kaufte, laut der auch heute noch existierenden Urkunde, 1847 eine Gemischtwarenhandlung in der Gyöngyösstraße. Dieses Geschäft wurde dann um die Essigfabrik erweitert. Die bis 1930 unter dem Namen „Samu Hoffmann`s Söhne“ bestehende Firma wurde in den letzten knapp vierzig Jahren von meinem Großvater, Ignác Hoffmann und seinem Bruder Henrik Hoffmann geleitet.
Über meinen Großvater muss ich etwas ausführlicher erzählen, weil er eine außerordentlich große Wirkung auf meinen Vater hatte, den er seinen „Thronfolger“ nannte. Er selbst hatte in Wien einen höheren Handelskurs absolviert, was ihn aber nicht daran hinderte, wie für wohlhabende Bürger seiner Zeit üblich, eine außerordentliche literarische Bildung zu erwerben. Mein Vater berichtet in seinen Aufzeichnungen sogar mehrmals, wie viel Bildung er ihm zu verdanken habe. (…)
   Über die Jahre des Studiums und den Militärdienst im Jahre 1916 berichtet er selbst. Über sein Freiwilligenjahr [beim Militär] schweigen die Aufzeichnungen, doch er war stolz auf seine Kriegs-Auszeichnungen als Frontkämpfer. Anfang der vierziger Jahre jedoch kamen Verordnungen, die die Juden entrechteten und ihm zusammen mit dem Fähnrich-Rang auch diese Auszeichnungen aberkannten.
   Die Jugend  meines Vaters verlief hoffnungsvoll, erfolgreich sowie in relativer bürgerlicher Sicherheit in der Tradition des liberalen Ungarn, und wenn er auch seine juristische Ausbildung nicht nutzte und nicht alle seine Ambitionen erfüllen konnte, war er doch hochangesehen und lebte in Wohlstand. Mit achtundzwanzig Jahren heiratete er. Die Familie meiner Mutter, Helén Schütz, ähnelte der meines Vaters. Sie war eine alte vermögende Familie aus Zalaegerszeg, mit einem Geschäft und weiterem Besitz. Die Herkunft verband meine Eltern also ebenso wie ihre gesellschaftliche Stellung. Mein Vater hielt Pflichterfüllung für das Wichtigste und seine Welt war die Dichtung der klassischen Autoren. Meine Mutter liebte das Leben, die Schönheit und die Natur. Sie ergänzten einander.
   Am 26. April 1944 kamen die Gendarmen, um uns ins plötzlich errichtete „Ghetto“ von Nagykanizsa, das heißt in die Synagoge zu begleiten. [Im ungarischen Original nennt Judit Varga den 27. April; diese Angabe hat sie später korrigiert.] Sie gaben uns eine halbe Stunde, um das Nötigste zu packen, dann brachen wir auf. Wir waren fünf, da die Mutter meines Vaters, die Witwe von Ignác Hoffmann, gerade bei uns war. Drei Tage später wurden wir, meine Eltern, mein Bruder und ich, in einen Viehwaggon getrieben. Sechzig Menschen wurden in einen Waggon gezwängt. Meine Großmutter Regina war vorläufig in der Synagoge geblieben; sie kam mit einem weiteren Transport nach Auschwitz und wurde direkt in die Gaskammer geschickt. Wir vier wurden in Auschwitz zur Arbeit eingeteilt: Männer und Frauen getrennt. Meinen Vater sah ich dort zum letzten Mal und auch meinen Bruder. Mein Vater arbeitete in irgendeiner Fabrik, konnte aber die körperliche Arbeit unter den dortigen Umständen nicht lange ertragen, sein Zustand verschlechterte sich rapide. Er wurde in die Gaskammer geschickt. Über sein Schicksal informierten mich später Überlebende aus Nagykanizsa.
   In Auschwitz blieb ich einige Tage mit meiner Mutter zusammen, bis ich der nach Gleiwitz abkommandierten Arbeitsgruppe zugeteilt wurde. Das Schicksal sorgte aber dafür, dass wir in Ravensbrück wieder aufeinander trafen, als die Lager in Gleiwitz und Auschwitz wegen des Vormarsches der russischen Armee evakuiert wurden. Das geschah Anfang Februar 1945. Von Gleiwitz weg musste ich zehn Tage lang in einem offenen Viehwaggon fahren, ohne Essen und Trinken. Viele sprangen aus den Waggons. Ich hielt durch. Auch die Gruppe meiner Mutter wurde unter ähnlichen Umständen nach Ravensbrück transportiert, wo sie schon in einem sehr schlechten Zustand ankam, von hier wurden wir weiter gebracht, ins Lager Rechlin. Meine Mutter kam dort in die Sanitätsbaracke, das „Revier“.
   Ich wurde in Rechlin zur Arbeit im Gelände eingeteilt, wir mussten bewegliche Fliegerabwehrkanonen „tarnen“, wie die Deutschen sagten. In bitterer Kälte gingen wir mehrere Kilometer zu dem Gelände, wo wir zum Tarnen die gefrorene Erde lockern mussten. Wir litten, hungerten, froren. Ich wurde so schwach, dass man mich als Aushilfe ins „Revier“ nahm. So kam ich in die Nähe meiner Mutter.
   Eines Tages sagte mir ein Mithäftling, dass meine Mutter mich bitte zu kommen. Ich ging zu ihrer Pritsche. Dort lag sie, abgemagert bis auf die Knochen. Ihre Worte werde ich nie vergessen. „Mein Kind“,  sagte sie, „ich werde jetzt sterben. Du wirst das Ende des Krieges erleben. Wenn du zurückkehrst, sammle, was von unseren Sachen übrig ist.“ Dann zählte sie auf, bei wem ich was finden könne. Ihr verdanke ich es, dass ich die Tagebuchhefte meines Vaters gefunden habe. Sie gab mir auch für ihn ein Abschiedswort mit, wir wussten ja noch nicht, dass er da schon nicht mehr am Leben war. Dann drehte sie sich zur Wand und holte in immer längeren Zeitabschnitten und immer leiser Atem. So kam ihr Ende.
   Mein Bruder Sándor war zwei Jahre älter als ich. Da er ein ausgezeichneter Mathematiker war, wollte er an eine technische Universität gehen, was aber nicht mehr möglich war. Er hatte vier Gymnasialklassen bei den Piaristen in Nagykanizsa besucht, dann kam er in die Mittelschule für Maschinenbau der Israelitischen Glaubensgemeinde in Pest, wo er das Abitur ablegte. Er war in Auschwitz mit dem Vater zusammen, man ließ ihn als technischen Zeichner in einem Kriegsbetrieb arbeiten. Bei der Evakuierung im Januar 1945 steckte man ihn in einen Waggon, die Waggons wurden Richtung Westen in Gang gesetzt. Da es aber nicht genügend Waggons gab, benutzten die SS-Männer eine einfache Methode. Einen Teil der Häftlinge - gerade die aus Nagykanizsa - trieben sie in den Wald und richteten sie dort mit Maschinengewehren hin. Zwei blieben am Leben, von ihnen erfuhr ich, dass auch Sanyi hingerichtet worden war.

  Judit und Sándor Hoffmann, 1939                         
   (Foto: Tódor Szilárd)  

                                        








Platte am Grab der Familie Hoffmann
auf dem alten jüdischen Friedhof in Szombathely
[Ort der Ermordung von Sándor: "auf deutscher Erde"]


Zum Schluss wieder einige Worte über mich.
   Aus Auschwitz wurde ich ins Lager Gleiwitz gebracht, wo man mich als junge Arbeitskraft in einer Fabrik für Kriegsmaterial arbeiten ließ. In furchtbarer Hitze produzierten wir Ruß. Acht Monate lang dauerte diese Zwangsarbeit. Am 18. Januar 1945 wurde die Produktion wegen der russischen Bombardements eingestellt und das Lager evakuiert. Drei Tage wurden wir zu Fuß durch den Schnee getrieben und dann unter den schon geschilderten Umständen nach Ravensbrück verbracht.
   Etwa eine Woche nach dem Tod meiner Mutter wurde auch das Lager Rechlin evakuiert, wir Häftlinge wurden tagelang, Tag und Nacht, auf der Straße getrieben, völlig ohne Ziel. Viele kamen um. Sie setzten sich einfach an den Rand des Straßengrabens und starben dort. Die SS-Maschinerie versagte damals schon allmählich, unsere Begleiter blieben Anfang Mai zurück, und wir erfuhren von einer uns entgegenkommenden Gruppe, dass die Russen uns umzingelt hätten und wir frei seien.
   Ich lege nicht im Einzelnen dar, wie ich zu Fuß, auf Last- und Pferdewagen und mit dem Zug nach Budapest gelangte. Am 20. Juni kam ich am Westbahnhof an. Bei der jüngeren Schwester meines Vaters, die in Budapest wohnte, fand ich ein provisorisches Obdach.
Von meinen unmittelbaren Familienmitgliedern, aber auch aus der weiteren zahlreichen Verwandtschaft in Szombathely, Zalaegerszeg und Nagykaninzsa blieb allein ich am Leben.
Nur wusste ich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
   Ich war achtzehn.

Übersetzung:  Erika Garics; Mitarbeit: Ernst T. Mader 
Lektorat: Ernst T. Mader
© 2010 • Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel "Ködkárpit. Egy zsidó polgár feljegyzései 1940-1944", verlegt von der Stadt Szombathely. © Judit Varga-Hoffmann

Erinnerung an Opfer im Holocaust-Gedenkzentrum Budapest