Sonntag, 2. Oktober 2011

Mord in Blöcktach

Am 11. September 1906 geschah im Allgäu ein Verbrechen, das ganz Schwaben erschütterte - und auch bei Ludwig Thoma vorkommt.

Den gehetzt von Blöcktach nach Friesenried strampelnden Radler konnte der Fahrer aus seinem Postomnibus heraus wegen der einsetzenden Dämmerung nicht erkennen, am nächsten Tag, am 12. September, erfuhr er, dass er vermutlich einen Mörder gesehen hatte. Gegen sechs Uhr morgens entdeckte ein Maurer etwa 300 Meter außerhalb von Blöcktach neben der Straße ins knapp zwei Kilometer entfernte Friesenried die Leiche einer Frau, „fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die untere Hälfte des Gesichts war mit Blut und Staub bedeckt, der Unterleib weit aufgeschnitten, am Oberschenkel fehlte ein Stück Fleisch, das der Mörder mitgenommen zu haben scheint.“ Zwei Stunden später wurde sie als Balbina Kögel identifiziert, die 63-jährige Mutter des Blöcktacher Pfarrers. 
Anfang eines Artikels aus dem „Kaufbeurer Anzeigeblatt“ 
vom 12. September 1906

Was das „Kaufbeurer Anzeigeblatt“ nicht schrieb, ergänzte der Pathologe, Medizinalrat Riegel aus Kempten, später vor dem Schwurgericht Augsburg: Balbina Kögel war erstickt, weil das Blut aus zwei Schnitten im Hals, „beginnend am rechten Ohrläppchen fast bis zur anderen Halsseite“, in Luftröhre und Lunge geflossen war.
Balbina Kögel war mit dem Zug aus Holzheim (bei Rain am Lech), wo sie ihren zweiten Sohn, den dortigen Pfarrer besucht hatte, am frühen Abend in Kaufbeuren angekommen und auf ihrem Fußweg ins zwölf Kilometer entfernte Blöcktach kurz vor dem Pfarrhof, ihrem Zuhause, Opfer der „bestialischen Tat“ eines „Scheusals“ geworden. „Furcht und Schrecken“ in der Region spürte eine Lokalzeitung, übertroffen bei manchen nur noch von der Anteilnahme mit den Söhnen. Der Friesenrieder Pfarrer schrieb in seine Chronik:„ Ich habe niemals in meinem Leben einen Mann so herzerweichend weinen sehen, wie  den sonst ziemlich kalten priesterlichen Freund in Blöcktach, als ich ihm an diesem Tage Worte des Trostes zusprechen wollte. Und kaum eine Beerdigung habe ich gehalten, wo es über der ungeheuren Trauermenge so schwer lag, wie damals am Freitag, dem 14. Sept. 1906, bei derjenigen der guten Pfarrmutter von Blöcktach. Wer war der Täter, war jetzt die Frage.“
Schon unmittelbar nach der Tat fiel der Verdacht auf einen seit drei Wochen flüchtigen Patienten der Heilanstalt Kaufbeuren; Polizei und Feuerwehren von elf Gemeinden durchsuchten tagelang Hütten und Strohhaufen, Felder und Wälder in ihrer Umgebung. Während der Beerdigung verhaftete die Polizei bei Obergünzburg einen „sehr verdächtigen Gauner“, zwei Tage später in Eggenthal einen Landstreicher; beide kamen bald als erwiesen unschuldig wieder frei. Auch ein von den Bezirksämtern Kaufbeuren und Markt Oberdorf angeordnetes sogenanntes „Kesseltreiben“ zwischen Blöcktach und Irsee von 900 Männern mit Schusswaffen, Heu- und Mistgabeln blieb erfolglos. Am 18. September veröffentlicht die Staatsanwaltschaft Kempten einen Steckbrief des entflohenen Patienten und bittet alle „um Spähe und Festnahme“. In einem Blöcktacher Wirtshaus gehen derweil die Verhöre von Zeugen und Verdächtigen weiter. Mitte Oktober verbreitet sich das Gerücht, die Polizei habe den Mörder; es sei ganz sicher ein Sohn des Sägers in Blöcktach. Doch die Ermittlungen bestätigen sein Alibi. Dringend verdächtig ist nun ein weiterer Landstreicher; auch er kann seine Unschuld beweisen. Als sich herausstellt, dass auch der von Anfang an gesuchte „Irrsinnige“ aus Kaufbeuren am 11. September weit vom Tatort entfernt im Zusamtal war, glauben die meisten, der Schuldige bleibe für immer unentdeckt, „die furchtbare Tat“ ungesühnt.
Zwei Monate nach seinem Verbrechen verriet er sich selbst: Am 8. November bat der im Gefängnis Stadelheim (bei München) wegen eines Fahrraddiebstahls einsitzende ledige Bäckergeselle Johann Lingg aus Friesenried seinen Mithäftling Franz Diepold, dessen Strafe am nächsten Tag endete, seiner (Linggs) Familie schriftlich eine Nachricht zukommen zu lassen: Er sei beunruhigt wegen der fortdauernden Suche nach Balbina Kögels Mörder; sein Bruder solle den Inhalt eines Koffers auf dem Dachboden vernichten, er könne Fremde auf falsche Gedanken bringen; seine Schwester solle bei einer eventuellen Befragung sagen, sie habe ihn am 11. September abends zur Post geschickt. Von sieben bis acht Uhr sei er dort gewesen und dann zuhause auf dem Sofa gelegen. Wenn alles erledigt sei, möge ihm der Vater einen Brief mit dem Kürzel O. D. (oder O. B.) schicken. Diepold spürte, dass hinter diesem Wunsch mehr stecken musste als der Wille, alte Sachen zu entsorgen oder möglichen falschen Verdächtigungen vorzubeugen. Warum er sein Misstrauen und das Gespräch mit Lingg bzw. Notizen davon der Polizei in Wolfratshausen mitteilte, hat er nie gesagt. Diese jedenfalls informierte Kollegen im Ostallgäu. Am 13. November, während das Dorf eine Nachhochzeit und den Veteranenjahrtag feierte, öffneten Gendarmen aus Aitrang und Kaufbeuren mit dem Friesenrieder Bürgermeister den Koffer und fanden dort ein Portemonnaie, eine Brosche (Halbmond) sowie ein blutiges Taschentuch mit dem Monogramm „B. K.“: Besitz der toten Balbina Kögel. Linggs geachtete Familie und viele in der Region sind entsetzt und fassungslos, „Scham, Zorn, aber auch Ruhe ergriff die Herzen“, notiert der Ortspfarrer.
Lingg gesteht nach kurzem Leugnen beim ersten Verhör am 24. November in Stadelheim. Am nächsten Tag beginnt er plump und durchschaubar planvoll, den Unzurechnungsfähigen zu simulieren, und klagt über Kopfweh und Wahnvorstellungen. Auch im Gefängnis in Kempten, wohin er bald verlegt wird, redet er wirr, behauptet, vom 11. September nichts mehr zu wissen, und kommt daher vom 26. Januar bis 9. März 1907 zur Untersuchung in die Heilanstalt Kaufbeuren. Laut ihrem Gutachten ist der Beschuldigte „zwar ein geistesschwacher und gemütsstumpfer Mensch, leidet aber nicht an krankhafter Störung des Geistes“.
Am 5. Juli 1907 verhandelt das Schwurgericht in Augsburg seinen Fall.
Anfang eines Artikels aus dem 
„Kaufbeurer Anzeigeblatt“ v. 6. Juli 1907

Ein Reporter im überfüllten Gerichtssaal - viele Neugierige hatten keinen Platz bekommen – sieht einen jungen, mittelgroßen Angeklagten, „gutgebaut …mit stark gelichtetem Haar und anscheinend etwas stumpfsinnigem Gesichtsausdruck“; Zeugen charakterisieren ihn als nicht besonders anhänglich in der Kindheit (Vater), später leicht erregbar, schwerfällig und etwas sonderbar (Kamerad beim Militär), diszipliniert und sehr weichherzig (Vorgesetzter beim Militär), unsicher-verschlossen (Lehrherr), heimtückisch (Bürgermeister), geistig schwach, aber gutmütig und harmlos (Lehrer).

Linggs Angaben sowie weitere Aussagen der 16 Zeugen und drei Sachverständigen im Vorfeld und Verlauf des Prozesses erhellen Biografie und Motiv des Beschuldigten, klären die Tat aber nicht vollständig: Der 1882 geborene Bauernsohn kommt als Schüler mit Eltern und sieben Geschwistern von Leuterschach (Ostallgäu) nach Friesenried; 1899 stirbt die Mutter, 1902 beendet er seine Bäckerlehre, vor und nach dem Militärdienst arbeitet er an verschiedenen Orten in Deutschland und der Schweiz. Als er im Sommer 1906 auf Bitten des Vaters heimkommt, um bei der Ernte zu helfen, hat er kaum Geld. Für die (angeblich) geplante Meisterprüfung oder Konditorenlehre braucht er aber einiges. Der Vater gibt ihm keines und darum bitten will er ihn nicht, um weiterhin als sparsam zu gelten. Am 2. September stiehlt er deshalb in Aitrang ein Fahrrad; sein aus der Schweiz mitgebrachtes will er am 11. September nach Feierabend im sechs Kilometer entfernten Eggenthal verkaufen. Auf dem Weg dahin sieht er vor Blöcktach eine Frau gehen und beschließt sofort, sie auszurauben. Was dann etwa um halb acht passierte, erzählte Lingg mehrmals in unterschiedlichen Versionen, keine konnte das Gericht ganz bestätigen oder widerlegen. Unstrittig sind Raub und Tötung, möglich bleiben eine Vergewaltigung oder eine sexuelle Leichenschändung. Dem Untersuchungsrichter und seinem ersten Verteidiger (er muss sich später vertreten lassen) liefert der Angeklagte folgende Geschichten:
Er packt die Frau am Arm, fordert Geld, sie wehrt sich, will wegrennen, Lingg sticht und schneidet ihr mit dem Taschenmesser in den Hals, nimmt ihre Schuhe, die Geldbörse mit 50 Pfennig, eine Brosche und ein Taschentuch. Ihr Schreien (oder Röcheln) versetzt ihn in Panik, und er tötet sie, um nicht entdeckt zu werden. Teile des Unterleibs und des rechten Oberschenkels schneidet er weg, „damit sie besser ausblüte“. Im Bach neben der Straße wäscht Lingg seine blutigen Hände und packt neben der Beute auch Fleischstücke ein, die er auf dem Heimweg wegwirft. Zuhause reinigt er sich und seine Kleidung und geht ins Bett.

Vor Gericht will Lingg sich so wenig erinnern wie seit Dezember : Er wollte die Frau ausrauben, sie nannte ihn beim Namen, und das habe ihn so verstört, dass er vom übrigen Abend nichts mehr wisse. Erst als am Tag danach alle über einen Mord sprachen, sei er sicher gewesen: Das war ich.

Gravierend anderes erzählte Lingg einem Pfleger in der Heilanstalt Kaufbeuren, was dieser dann als Hauptbelastungszeuge bei der Verhandlung weitergibt: Danach hat der Angeklagte sein Opfer sofort als die Mutter des Blöcktacher Pfarrers erkannt, bei ihr Geld vermutet und die Sterbende oder schon Tote nicht nur beraubt, sondern auch vergewaltigt. Weil er sich im Falle einer Entdeckung dafür mehr schämen würde als für Raub und Mord, verstümmelte er die Leiche, um Spuren zu tilgen. Er sei dabei „ganz kalt gewesen und hätte die Frau gleich ganz vermetzgen können“. Allerdings meint ein anderer Zeuge, dieser Pfleger übertreibe gerne, um sich wichtig zu machen. Tatsächlich hatte die Obduktion keine Hinweise auf ein Sexualdelikt ergeben.

Keine Rolle vor Gericht spielte jene Version, die der damalige Pfarrer von Friesenried überliefert; danach sah Lingg „eine Frau in Richtung Blöcktach gehen …, wollte dieselbe verfolgen. Er fuhr ihr mit dem Rade nach, und holte eine Frauensperson (aber nicht die er gesehen, die war schon in Blöcktach) … ein, überfiel sie, und als sie schrie und ihr Geld nicht hergeben wollte, schnitt er ihr den Hals durch mit einem einfachen Messer. Da der Postomnibus in der nun einsetzenden Nacht jeden Augenblick von Friesenried her vorbeikommen musste, fuhr er mit seinem Rade wieder heimwärts, ganz in der Nähe des Postillions vorbei, der ihn aber nicht erkannte und auch die Leiche nicht bemerkte. Nachdem der Mörder zu Hause seine jüngeren Geschwister zu Bett gebracht hatte, begab er sich wieder an den Ort seiner Bluttat, nahm seinem toten Opfer Geldtasche, Taschentuch und Schuhe, und verging sich noch an der Toten. Er schnitt ihr sogar die Geschlechtsteile aus, um sie mitzunehmen.“

Ab dem 12. September beteiligt sich Johann Lingg eifrig an der Suche nach dem Täter, Ende des Monats fährt er mit seinem Fahrrad und sechs bis acht Mark nach Augsburg, findet keine Arbeit, stiehlt dort am 8. Oktober ein weiteres Fahrrad, fährt damit nach Dachau, wird dort verhaftet, in München zu fünf Wochen Gefängnis verurteilt und nach Stadelheim verbracht, wo er sich schließlich verrät.
Sein Verbrechen gehört zu den spektakulärsten in Schwaben zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allein vier Augsburger Tageszeitungen berichteten jeweils auf mehreren Seiten über den Prozess, der nicht mit dem erwarteten Todesurteil endete, sondern mit einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.
Die Geschworenen folgten damit den Gutachtern, die Lingg zwar für verantwortlich, aber geistig beschränkt und affektgeleitet hielten, sowie der Verteidigung, nach der er „zwar mit Vorsatz, aber ohne Überlegung“ handelte.
Johann Lingg starb am 12. März 1919 in Kaisheim.

Auf dem Friedhof in Blöcktach erinnert eine Tafel an Balbina Kögel.

1922 erschien das "Stadelheimer Tagebuch" von Ludwig Thoma (1867-1921). Der hatte im dortigen Gefängnis am 16. Oktober 1906, wie die Münchner Neuesten Nachrichten am selben Tag noch meldeten, eine sechswöchige Haft angetreten, "welche ihm wegen Beleidigung von Vertretern der Sittlichkeitsvereine durch die Stuttgarter Strafkammer zuerkannt wurde."
Zum Samstag, 17. November 1906 schreibt Thoma: "Am Morgen starker Wind; in der Nacht hatte es geregnet. Als ich mit Hintermaier [Wachmann] in den Hof ging, winkte er mir im Parterregange und zeigte nach einer Zelle (Nummer 5). Im Hofe sagte er mir, da drinnen sitze der Bäckergeselle Johann Lingg, der die Pfarrermutter Kögel in Blöcktach ermordet habe. Er hat sich durch einen Brief selbst verraten. Hier sitzt er wegen Fahrraddiebstahls. Nachmittags ließ mich Hintermaier einen Blick in die Zelle werfen. Der Bursche saß aber mit dem Rücken gegen uns, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Noch weiß er nicht, daß sein Brief in die Hände der Behörde gekommen ist."
Am nächsten Samstag: "Schönes Wetter; doch Nebel bis gegen Mittag. Der Bäckergeselle Lingg weiß nunmehr sein Schicksal. Er ist heute vernommen worden; den ganzen Tag."

© Ernst T. Mader, August 2011
Eine gekürzte Fassung erschien am 9. September 2011 in der Allgäuer Zeitung.