Allgäuer erfahren 1914
als Pilger in Palästina vom Kriegsbeginn in Europa
© Ernst T. Mader
Am 28. Juni 1914
werden der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in
Sarajewo von dem Serben Princip erschossen. Europa bebt. Doch weichen Entsetzen
und Kriegsfurcht auch im Allgäu bald dem Gefühl, bis auf eine Strafaktion
Österreichs gegen Serbien werde militärisch weiter nichts passieren, und so
beginnen am 16. Juli Gläubige aus dem gesamten Allgäu mit dem „Bayerischen Pilgerverein
vom Heiligen Lande“ ihre lange geplante Wallfahrt nach Palästina, „sorglos“,
wie der Blöcktacher Pfarrer als Teilnehmer notiert.
Über Salzburg und Villach
bringt sie der Zug ins noch österreichische Triest, wo wie überall im Land
Schaufenster ein Bild des Erzherzogs mit Trauerflor zeigen, was die Gegenwart
bedrohlicher macht als daheim. Die fünftägige Fahrt über das Mittelmeer wirkt
beruhigend , weil jedes kreuzende Schiff friedlich salutiert, und den letzten
trüben Gedanken vertreibt der erste Kontakt mit dem Boden, auf dem die
christliche Geschichte begann. Ende Juli betet die Gruppe nach Stationen in
Nazareth, Jerusalem und Bethlehem in Bethanien, wo im Johannesevangelium Jesus
den toten Lazarus wieder ins Leben holt (in den folgenden vier Jahren ein
häufiges Thema in Predigten). Dort hören die Allgäuer mit einiger Verspätung
von der Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Während sie daheim Freude
auslöst, sorgt sie bei der Pilgergruppe für „gemischte Gefühle“, die ins
Bedrückende absinken, als in Jerusalem bald danach das Gerücht umgeht, „dass
auch Deutschland auf dem Kriegsfuße stehe“. Mehr oder Genaues wissen die
Wallfahrer an diesem 1. August nicht (tatsächlich hat Deutschland an diesem Tag
Russland den Krieg erklärt). Im Allgäu besteigen derweil an allen Bahnhöfen
Wehrpflichtige und Freiwillige beweint und bejubelt ihre Züge an die Front, und
ein Extra-Blatt verkündet in dicken Lettern: „Das Volk steht auf – der Sturm
bricht los.“ Die Palästinapilger aber leiden: „In
Jerusalem erhielten wir nur die telegraphische Kunde, dass in Berlin eine
fieberhafte Aufregung herrsche, Österreich bereits Belgrad beschieße. Und da
erfasste uns verzehrendes Heimweh, eine dunkle Ahnung verschlang auf einmal die
heilige Stimmung: O wären wir nur im bedrohten heimischen Lande, werden wir’s
wohl noch einmal sehen?! – Am 2. August haben wir zwei Mitpilgerinnen
mit großem Schmerz auf ,Sion‘ begraben, sie haben ihre Ruhe gefunden, sind
aller Sorgen entledigt; aber wir? Unser Schiff, die Tirol, weilt bis 2. August in Alexandrien, an eine Abfahrt in
Jaffa [heute ein Teil von Tel Aviv] ist vor 3. August nicht zu denken.“
Teil der bayerischen Pilgergruppe im Heiligen Land 1914. Repro: Mader |
Dann muss es plötzlich
ganz schnell gehen: Gleich nach ihrem Einlaufen in Jaffa erhält die Tirol telegrafisch den Befehl, sofort
und unter Volldampf auf dem kürzesten Kurs nach Triest zu fahren; die Hektik
auf dem Schiff erleben die Pilger zunächst als beängstigend, zumal ein
französischer Kreuzer die ganze Zeit bedrohlich hinter ihnen bleibt. Bald aber
überdeckt die Seekrankheit bei den meisten jede andere Sorge. Südlich von Kreta
sichten einige Wallfahrer ein mutmaßlich feindliches Schiff, was einen Bauern
aus Seeg, mittlerweile nur noch ein liegendes Elend, kalt lässt: „Und wenn der
Teufel kommt, ist mir’s gleich.“ Im Allgäu hat man seit zwei Wochen nichts mehr
von den Pilgern gehört, manche bezweifeln schon, ob sie jemals heil aus dem
Kriegsgebiet Mittelmeer heimkommen. Dort schwimmt die Tirol aus Furcht vor Feinden ohne Licht durch die Nacht, in die
hinaus ihre verängstigten Passagiere „vaterländische und Heimatlieder“ singen, was zumindest
für den Moment die tröstliche Illusion erlaubt, „als ob wir in süßestem Frieden
dahinführen“. Erst die Passage der Straße von Otranto am Absatz des
italienischen Stiefels bringt die ersehnte Beruhigung; die Adria gilt als
sicher:„O, wie atmete da jedes Pilgerherz auf! Wären wir jetzt nur schon in der
Heimat, oder wenigstens doch in Triest!“ Dort läuft die Tirol in der nächsten Nacht schließlich ein. Am Morgen hetzen alle
in die Stadt, „haschen nach den neuesten Blättern: es sind
italienische. Aber, was wir sehen und hören und lesen, genügt: Deutschland im
Krieg mit Russland, Frankreich und England! Wir sind verloren, das ist unser
aller Gedanke und dumpfe Resignation legt sich wie ein Panzer, den Atem
benehmend auf das Gemüt!“
Den Fahrplan der
Eisenbahn bestimmt inzwischen das Militär; ein Zug für Zivilisten nach Wien
fährt nur noch alle drei Tage. Die beginnende Panik unter den Pilgern beendet
die Nachricht, dass die bayerische Regierung für den nächsten Tag einen Sonderzug
organisieren konnte. Er verlässt Triest am Sonntagmorgen (9. August) und kommt
nach 44 Stunden und 72 Tunnel in München an. Jeden Tunnel bewachen Soldaten,
jeden Gleisabschnitt begehen Kontrolleure, bevor der Zug ihn befahren darf,
weil Österreich dort von Serben gelegte Sprengfallen befürchtet. Der
Blöcktacher Pfarrer notiert: „Wir wissen eigentlich keinen Moment, wann unser
Zug in die Luft fliegt: ein beneidenswertes Gefühl!“
Endlich im Allgäu, kurz vor dem ersehnten heimatlichen Dorf,
bekommt er auf dem Weg vom Bahnhof in Kaufbeuren zur Postkutsche gleich die
seit Tagen vom Staat gezielt geschürte Feind-Hysterie zu spüren; für sie lauern
überall im Land Spione und Saboteure, vor allem französische, auf jede Chance,
Deutschland zu schaden: „Mein bärtiges Aussehen, weißer Strohhut und
Staubmantel erregten den berechtigten Verdacht einiger patriotischer Leute, die
mit grimmiger Miene meiner Spur folgten, bis ich endlich ihren Irrtum
aufklärte.“ Das Land, das die Pilger vor knapp vier Wochen im Frieden verlassen
hatten, führte nun Krieg. #
Der Beitrag erschien am 6. August 2014 in der Allgäuer Zeitung.