Dienstag, 30. Dezember 2014

Heimkehr in den Krieg (1914)


Allgäuer erfahren 1914 als Pilger in Palästina vom Kriegsbeginn in Europa
© Ernst T. Mader

Am 28. Juni 1914 werden der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajewo von dem Serben Princip erschossen. Europa bebt. Doch weichen Entsetzen und Kriegsfurcht auch im Allgäu bald dem Gefühl, bis auf eine Strafaktion Österreichs gegen Serbien werde militärisch weiter nichts passieren, und so beginnen am 16. Juli Gläubige aus dem gesamten Allgäu mit dem „Bayerischen Pilgerverein vom Heiligen Lande“ ihre lange geplante Wallfahrt nach Palästina, „sorglos“, wie der Blöcktacher Pfarrer als Teilnehmer notiert.
Über Salzburg und Villach bringt sie der Zug ins noch österreichische Triest, wo wie überall im Land Schaufenster ein Bild des Erzherzogs mit Trauerflor zeigen, was die Gegenwart bedrohlicher macht als daheim. Die fünftägige Fahrt über das Mittelmeer wirkt beruhigend , weil jedes kreuzende Schiff friedlich salutiert, und den letzten trüben Gedanken vertreibt der erste Kontakt mit dem Boden, auf dem die christliche Geschichte begann. Ende Juli betet die Gruppe nach Stationen in Nazareth, Jerusalem und Bethlehem in Bethanien, wo im Johannesevangelium Jesus den toten Lazarus wieder ins Leben holt (in den folgenden vier Jahren ein häufiges Thema in Predigten). Dort hören die Allgäuer mit einiger Verspätung von der Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Während sie daheim Freude auslöst, sorgt sie bei der Pilgergruppe für „gemischte Gefühle“, die ins Bedrückende absinken, als in Jerusalem bald danach das Gerücht umgeht, „dass auch Deutschland auf dem Kriegsfuße stehe“. Mehr oder Genaues wissen die Wallfahrer an diesem 1. August nicht (tatsächlich hat Deutschland an diesem Tag Russland den Krieg erklärt). Im Allgäu besteigen derweil an allen Bahnhöfen Wehrpflichtige und Freiwillige beweint und bejubelt ihre Züge an die Front, und ein Extra-Blatt verkündet in dicken Lettern: „Das Volk steht auf – der Sturm bricht los.“ Die Palästinapilger aber leiden: „In Jerusalem erhielten wir nur die telegraphische Kunde, dass in Berlin eine fieberhafte Aufregung herrsche, Österreich bereits Belgrad beschieße. Und da erfasste uns verzehrendes Heimweh, eine dunkle Ahnung verschlang auf einmal die heilige Stimmung: O wären wir nur im bedrohten heimischen Lande, werden wir’s wohl noch einmal sehen?! – Am 2. August haben wir zwei Mitpilgerinnen mit großem Schmerz auf ,Sion‘ begraben, sie haben ihre Ruhe gefunden, sind aller Sorgen entledigt; aber wir? Unser Schiff, die Tirol, weilt bis 2. August in Alexandrien, an eine Abfahrt in Jaffa [heute ein Teil von Tel Aviv] ist vor 3. August nicht zu denken.“
Teil der bayerischen Pilgergruppe im Heiligen Land 1914. Repro: Mader

Dann muss es plötzlich ganz schnell gehen: Gleich nach ihrem Einlaufen in Jaffa erhält die Tirol telegrafisch den Befehl, sofort und unter Volldampf auf dem kürzesten Kurs nach Triest zu fahren; die Hektik auf dem Schiff erleben die Pilger zunächst als beängstigend, zumal ein französischer Kreuzer die ganze Zeit bedrohlich hinter ihnen bleibt. Bald aber überdeckt die Seekrankheit bei den meisten jede andere Sorge. Südlich von Kreta sichten einige Wallfahrer ein mutmaßlich feindliches Schiff, was einen Bauern aus Seeg, mittlerweile nur noch ein liegendes Elend, kalt lässt: „Und wenn der Teufel kommt, ist mir’s gleich.“ Im Allgäu hat man seit zwei Wochen nichts mehr von den Pilgern gehört, manche bezweifeln schon, ob sie jemals heil aus dem Kriegsgebiet Mittelmeer heimkommen. Dort schwimmt die Tirol aus Furcht vor Feinden ohne Licht durch die Nacht, in die hinaus ihre verängstigten Passagiere „vaterländische  und Heimatlieder“ singen, was zumindest für den Moment die tröstliche Illusion erlaubt, „als ob wir in süßestem Frieden dahinführen“. Erst die Passage der Straße von Otranto am Absatz des italienischen Stiefels bringt die ersehnte Beruhigung; die Adria gilt als sicher:„O, wie atmete da jedes Pilgerherz auf! Wären wir jetzt nur schon in der Heimat, oder wenigstens doch in Triest!“ Dort läuft die Tirol in der nächsten Nacht schließlich ein. Am Morgen hetzen alle in die Stadt, „haschen nach den neuesten Blättern: es sind italienische. Aber, was wir sehen und hören und lesen, genügt: Deutschland im Krieg mit Russland, Frankreich und England! Wir sind verloren, das ist unser aller Gedanke und dumpfe Resignation legt sich wie ein Panzer, den Atem benehmend auf das Gemüt!“
Den Fahrplan der Eisenbahn bestimmt inzwischen das Militär; ein Zug für Zivilisten nach Wien fährt nur noch alle drei Tage. Die beginnende Panik unter den Pilgern beendet die Nachricht, dass die bayerische Regierung für den nächsten Tag einen Sonderzug organisieren konnte. Er verlässt Triest am Sonntagmorgen (9. August) und kommt nach 44 Stunden und 72 Tunnel in München an. Jeden Tunnel bewachen Soldaten, jeden Gleisabschnitt begehen Kontrolleure, bevor der Zug ihn befahren darf, weil Österreich dort von Serben gelegte Sprengfallen befürchtet. Der Blöcktacher Pfarrer notiert: „Wir wissen eigentlich keinen Moment, wann unser Zug in die Luft fliegt: ein beneidenswertes Gefühl!“
Endlich im Allgäu, kurz vor dem ersehnten heimatlichen Dorf, bekommt er auf dem Weg vom Bahnhof in Kaufbeuren zur Postkutsche gleich die seit Tagen vom Staat gezielt geschürte Feind-Hysterie zu spüren; für sie lauern überall im Land Spione und Saboteure, vor allem französische, auf jede Chance, Deutschland zu schaden: „Mein bärtiges Aussehen, weißer Strohhut und Staubmantel erregten den berechtigten Verdacht einiger patriotischer Leute, die mit grimmiger Miene meiner Spur folgten, bis ich endlich ihren Irrtum aufklärte.“ Das Land, das die Pilger vor knapp vier Wochen im Frieden verlassen hatten, führte nun Krieg. #

Der Beitrag erschien am 6. August 2014 in der Allgäuer Zeitung.

Ein Augenzeuge des Attentats von Sarajewo


Ein Augenzeuge des Attentates von Sarajewo 1914 lebte nach 1945 in Kaufbeuren
© Ernst T. Mader

Ein Augenzeuge des Attentats von Sarajewo 1914 auf das österreichische Thronfolgerpaar Franz Ferdinand und seine Frau Sophie lebte nach 1945 in Kaufbeuren: Anton Pasler kam 1910 aus seiner sudetendeutschen Heimat als Beamter der österreichisch-ungarischen Militärpost nach Sarajewo. Am 28. Juni 1914 stand der Dreißigjährige vor dem Militärpostamt, einem eingeplanten Halt der erzherzoglichen Kolonne. Der Präsident der Militärpost, berichtet Pasler später einem Reporter des „Allgäuer“, begrüßte das Paar und überreichte ihm ein Telegramm der erzherzoglichen Kinder. Die Wagen fuhren weiter. Dann, so Pasler, erreichte ihn aus dem dritten Stock des Postamts die Meldung, eine Bombe sei auf das Habsburger-Auto geworfen worden. Er lief zur allgemein bekannten Fahrtroute, die der Chauffeur des Thronfolgers trotz des Attentatsversuchs irrtümlich beibehielt und auf der die Kolonne – nach einem kurzen Empfang im Rathaus - bald vorbeikam. Offensichtlich war der hohe Besuch unverletzt (dass die Bombe andere zum Teil schwer verwundet hatte, wusste Pasler zu diesem Zeitpunkt nicht). Pasler sieht, wie das Auto mit dem Thronfolgerpaar kurz hält: „Ich stand etwa vierzig Meter davon entfernt und sah selbst, wie der Attentäter Princip vom Gehsteig neben dem Auto aus seine zwei Schüsse abgab. Er traf den Erzherzog in die Halsschlagader und die Erzherzogin in die rechte Seite des Leibes. Als der Wagen schon auf die Brücke (Lateinerbrücke) einfuhr, sank der Kopf des Erzherzogs nach hinten, der Generalshut fiel in den Wagen.“ Vom Chauffeur will Anton Pasler später die letzten Worte Franz Ferdinands erfahren haben. Sie galten seiner Frau: „Du musst für unsere Kinder weiterleben.“ Minuten danach war das Paar tot.
Kurz darauf, so Pasler, habe ein Unbekannter bei einem Kollegen ein Telegramm an einen serbischen Major in Belgrad aufgegeben: „Beide Pferde gut verkauft.“ Das Telegramm ist verbürgt.
Tags darauf seien serbische Geschäfte in Sarajewo, wo nach der Erinnerung des ungebrochen habsburgtreuen Pensionisten viele Völker bis dahin „ausgezeichnet“ zusammengelebt hatten, „der Volkswut preisgegeben worden“.
Anton Pasler blieb noch bis 1921 als Postbeamter in Sarajewo, seit 1918 Teil des Königreiches Jugoslawien. Dann ging er in das nun tschechische Sudetenland zurück. Nach dem zweiten Weltkrieg lebte er bei Schwiegersohn und Tochter in Kaufbeuren.
PS: Von 1918 bis 1995 war die vormalige und heutige Lateinerbrücke in Sarajewo nach dem Attentäter Gavrilo Princip benannt, der am 28. April 1918 als Häftling in Theresienstadt (Tschechien, 1941 bis 1945 Ghetto und KZ) starb.
Auf dieser alten Ansicht von Sarajewo markierte Anton Pasler vor 50 Jahren einige beim Attentat von 1914 wichtige Stellen; Pfeil 2 (über der damaligen Lateinerbrücke) zeigt auf die Straße, in der das österreichische Thronfolgerpaar erschossen wurde. Die Tat sollte Bosnien-Herzegowina von der österreichisch-ungarischen Besatzung befreien.
Repro: Mader



Der Beitrag erschien am 30. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.

„Geh nicht dies Grab vorbey“ (Christian Jakob Wagenseil)


© Ernst T. Mader
Vor 175 Jahren starb Christian Jakob Wagenseil, der wichtigste Volksaufklärer Schwabens.

Foto: Stadtmuseum Kaufbeuren 
Repro: Mader
Zeitgenossen neigen dazu, ihre Gegenwart für etwas Besonderes zu halten. Manchmal zu Recht, oft zu Unrecht. Wer zum Beispiel glaubt, die kulturelle Vielfalt in Deutschland mit ihren Konflikten in Schulen und auf Straßen sei ein typisch modernes  Phänomen, blendet die mitunter blutigen multikulturellen Kämpfe der Vergangenheit aus, ausgefochten von Menschen gleicher Sprache, aber verschiedener Konfession oder Religion: Christen gegen Juden, Katholiken gegen Protestanten, Bibelgläubige gegen Darwinisten und so fort.  Noch nach dem zweiten Weltkrieg gehörte zum Beispiel das öffentliche Naserümpfen über Fronleichnam zum guten evangelischen Ton und seine demonstrative Feier zu den katholischen Kampfmitteln.
Viel getan für ein auskömmliches Miteinander der Kulturen und Konfessionen sowie ein freies Denken hat in Schwaben der 1756 in Kaufbeuren geborene Christian Jakob Wagenseil. Seine Studienzeit in Göttingen (Jura) und anschließende Reisen brachten ihm Kontakte unter anderem mit Goethe, Claudius und Klopstock. In öffentlichen Ämtern in Kaufbeuren, Kempten und Augsburg, als Autor, Herausgeber und Theaterreformer arbeitete er mit seiner im Norden gewonnenen aufgeklärten Weltsicht und wurde so zum wichtigsten Volksaufklärer Schwabens, ideell wie praktisch: In Kaufbeuren versuchte er zum Beispiel Verarmte über eine „Beschäftigungsanstalt“ wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern oder durch den Bau von Leichenhäusern und die Förderung der Blatternimpfung das Gesundheitswesen zu verbessern. In dieses Konzept passte auch, dass der Stadtrat 1783 seine Bürger aufforderte, endlich die Misthaufen vor den Häusern zu entfernen, wenigstens an den Hauptstraßen.
1780 regte Wagenseil die erste Leihbibliothek am Ort an und somit eine der ersten in Bayern, was ihm trotz spärlichen Zulaufs den offenen Hass katholischer Kreise einbrachte. Versöhnend wirkte hingegen seine Neuorganisation wöchentlicher Konzerte, weil sie die Kontakte zwischen den Konfessionen förderten. Schließlich gründete er 1786 die Freimaurerloge „Charlotte zu den drei Sternen“, die er allerdings drei Jahre später auf Weisung des städtischen Magistrats verlassen musste, in dessen Dienst er stand.
Von dem hochproduktiven und zu Lebzeiten umkämpften Schriftsteller erschienen 71 selbständige Titel im Druck, darunter Ritterballaden, Reden, Fabeln, Kantaten, Lieder, Gebete, Dramen und ein Roman. Deutlich spürbar ist die bewusste Volkstümlichkeit, seine pädagogisch-aufklärerische Haltung, das heißt der Versuch, Dichtung und Wissen breiten Schichten nahezubringen. Dies erhoffte sich Wagenseil unter anderem von seinen 20 Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen, die er mit schwäbischem Eifer herausgab und meist allein als Autor füllte. Vor allem sein „Gemeinnüziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied des Standes und der Religion, besonders in Schwaben“ zeigt Wagenseils Ziel, das er schon in der Nummer 1 begründete: „Aufklärung des Verstandes und Veredelung des Herzens.“
Dieses Programm fand sein Publikum nicht nur in Schwaben, sondern auch in München, Wien oder Berlin, und Wagenseil versorgte es im „Wochenblatt“ mit dem, was er dafür nötig hielt: Argumente gegen Jesuiten und Aberglauben, Hinweise auf praktische Neuerungen wie den Blitzableiter sowie belletristische Literatur, weswegen jede Ausgabe ein Gedicht, eine Fabel oder ein längeres Werk in Auszügen brachte.  Wohl wirken Wagenseils Schriften bisweilen wie die Kante vom Brot der Aufklärung: nahrhaft, aber trocken und hart, und sie entfalten ihren Geschmack mitunter erst nach langem Kauen; manches ist mehr Park als Landschaft. Doch bleibt bemerkenswert die Weite seiner geistigen Welt: Zu ihr gehörte der unprotestantische öffentliche Respekt vor dem katholischen Fronleichnamstag (für Luther das „schädlichste aller Feste“) ebenso wie der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (Lessings „Nathan der Weise“), nach dessen Tod 1786 er schrieb:
Geh nicht dies Grab vorbey, weils leicht sich fügt,
Daß ohne Dank du dich nicht wirst entfernen.
Du kannst beym Grab, in dem der weise Moses liegt,
Mehr, als aus mancher Predigt lernen.
Diese Offenheit brachte dem Freimaurer Wagenseil bisweilen heftige Konflikte ein, Unterstützung blieb jedoch nicht aus. Zeitgenossen schrieben: „Wir hören, dass er [Wagenseil] in seiner Gegend gewaltig mit Exjesuiten zu kämpfen hat. Das bedauern wir, ermuntern ihn aber, sich von Dummheit und Bosheit nicht überwinden zu lassen, sondern immer zu dem edlen Zweck zu arbeiten, Weisheit und brauchbare Kenntnisse in Schwaben zu verbreiten.“ Und so Mauern zwischen Menschen abzubauen. Manch Trennendes ist auch dank ihm mittlerweile verschwunden. Kaufbeuren ehrt den Unermüdlichen mit einer Straße, auch das Stadttheater hätte sich dafür angeboten: Wagenseil, so rühmt ein Nachruf den 1839 vermutlich in Augsburg Verstorbenen, habe es verstanden, „das durch ungesittete Possenreißereien verdorbene Theater gänzlich umzuschaffen“. #

Der Beitrag erschien am 18. Juni 2014 in der Allgäuer Zeitung.

Klimawandel als Thema 1963


© Ernst T. Mader

Politik und Medien vermitteln den Eindruck, als sei die Debatte um den Klimawandel eine bestaunenswerte Leistung der heutigen Wissenschaft und Politik, während frühere Generationen dieses Menschheitsproblem gänzlich ignorierten. Ein Artikel im Allgäuer vom 22. Juni 1963 zeigt ein anderes Bild; er fragt: „Beeinflusst Kohlendioxyd unser Klima?“ und fasst einen Beitrag von Hans-Georg Matthäus zusammen, den dieser für die Beilage zur Wetterkarte des Instituts für Meteorologie und Geophysik der Freien Universität Berlin verfasst hatte. Darin heißt es unter anderem:
„Es sind jetzt gerade 100 Jahre vergangen, dass man einen Einfluss des in der Luft befindlichen Kohlendoxyds auf das Klima vermutete. Als eigentlicher Begründer der Theorie der Klimaänderungen durch Kohlendioxyd muss jedoch G. S. [Guy Stewart] Callendar angesehen werden, der im Jahre 1938 eine grundlegende Arbeit veröffentlichte, in welcher er die Möglichkeit [!] diskutiert, dass der Kohlendioxyd-Gehalt der Luft durch die Wirkung industrieller Verbrennungsprozesse ständig zunimmt, was eine Verstärkung der ,Treibhauswirkung‘ der Atmosphäre und somit eine allmähliche Erhöhung der Mitteltemperatur der Erde zur Folge hätte.
Ein anderer Wissenschaftler, G. N. [Gilbert Norman] Plass, gelangte nach umfangreichen Berechnungen zu der Schlussfolgerung, dass die Erdmitteltemperatur unter Berücksichtigung einer mittleren Wolkenverteilung um 2,5 Grad C ansteigt bzw. sinkt, je nachdem die gegenwärtige Kohlendioxyd-Konzentration der Atmosphäre verdoppelt oder halbiert wird. Eine so verursachte Abnahme der Mitteltemperatur bedeutet einen erheblichen Einfluss auf das Klima, denn aus einem Abfall der Erdmitteltemperatur um 3 bis 4 Grad C könnte schon eine neue Eiszeit entstehen. Bei dieser Theorie geht man davon aus, dass der Kohlendioxyd-Gehalt der Atmosphäre in geologischer Vorzeit stark variiert haben muss, was einmal auf den Kohlendioxyd-Verlust durch Bildung neuer Kohlenlager zurückzuführen ist,  zum anderen auf eine Zunahme  der atmosphärischen Kohlendioxyd-Konzentration durch Prozesse wie Eruptionen heißer Quellen und Vulkanausbrüche. Die verschiedenen Änderungen des Kohlendioxyd-Gehalts der Luft müssten demnach verschiedene Epochen von Klimaschwankungen verursacht haben. Tatsächlich hat es ja auch mehrere Eiszeiten gegeben.
Durch industrielle Verbrennungsprozesse werden ungeheure Mengen von Kohlendioxyd in die Atmosphäre transportiert. Die gegenwärtigen Brennstoffvorräte der Erde werden in weniger als 1000 Jahren verbraucht sein. [1972 nannte der Club of Rome einen Zeitraum von nurmehr gut 100 Jahren.]  Ihre industrielle Verbrennung wird einen Kohlendioxyd-Betrag in die Atmosphäre befördern, der siebzehnmal größer als die gegenwärtig in der Atmosphäre enthaltenen Menge ist.  Da bei einem dauernden Steigen des atmosphärischen Kohlendioxyd-Gehalts von solch großem Ausmaß das Kohlendioxyd-Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wird daraus ein ständiger Temperaturanstieg resultieren. Man schätzt, dass die industrielle Tätigkeit des Menschen die Mitteltemperatur der Erde um 1,1 Grad C je Jahrhundert erhöht. Betrachtet man den Kohlendioxyd-Gehalt der Luft während großer Zeiträume, kann man die Feststellung ableiten, dass der Mensch durch seine industrielle Tätigkeit ein umfangreiches geophysikalisches Experiment durchführt; innerhalb weniger Jahrhunderte wird der Atmosphäre der Kohlenstoff wieder zurückgeführt, der in einigen 100 Millionen von Jahren durch Bildung von Kohlenlagerstätten aus der Atmosphäre entnommen wurde.
Allerdings sind das nur mehr oder weniger Theorien, die keinesfalls von der gesamten Wissenschaft unterstützt werden. Aber die Frage, ob Kohlendioxyd unser Klima beeinflusst, ist doch so interessant, dass man sich ruhig einmal Gedanken darüber machen sollte.“

Eine Woche später erschien derselbe Artikel noch einmal – offenbar maß die Redaktion des Allgäuer dem Thema vor 50 Jahren enorme Bedeutung bei, das ansonsten nur einen winzigen Kreis von Wissenschaftlern beschäftigte. Am noch lange andauernden Desinteresse von Politik und Öffentlichkeit an der Problematik änderte das allerdings nichts. #

Der Beitrag erschien am 12. Dezember 2013  in der Allgäuer Zeitung.