Mittwoch, 4. Dezember 2013

Eine Welt aus den Fugen. Reaktionen in Bayerisch-Schwaben auf das Kennedy-Attentat 1963


© Ernst T. Mader

Augsburg, Freitag, 22. November 1963. Um 21 Uhr bricht die örtliche SPD ihre Delegiertenversammlung in der Gaststätte „Lerchenkrug“ (Bärenkeller) ab; zur selben Zeit endet das Eishockeyspiel am Schleifgraben im heutigen Curt-Frenzel-Stadion vorzeitig. Hier wie dort hat man soeben erfahren, was seit kurzem in der Redaktion der Augsburger Allgemeinen nach stummem Entsetzen für konzentrierte Hektik sorgt: „Attentat auf Kennedy!“ steht auf einem Papierstreifen aus dem Fernschreiber - eine sogenannte Blitzmeldung der US-Nachrichtenagentur UPI. Bald ergänzt die Deutsche Presse-Agentur, der Präsident sei in Dallas, Texas nach zwei Schüssen auf ihn „blutend zusammengebrochen“ und, bereits von Geistlichen begleitet, in einem Krankenhaus. Nach etwa einer halben Stunde folgt die Nachricht vom Tod John F. Kennedys. Bevor Rundfunk und Fernsehen darüber informieren, können Passanten die „Hiobsbotschaft“ im Telegrammkasten der Zeitung in der Ludwigstraße 2 lesen – zum letzten Mal bei einem welthistorischen Ereignis ist in Deutschland die Presse schneller als die elektronischen Medien.
Minuten nach dem „Weltunglück“ erlebt der Lokalreporter in Augsburger Gaststätten „Bestürzung, Zweifel, Ungläubigkeit. Sie halten bald jeden, der die Nachricht weitergibt, für einen Narren im ersten Augenblick. Aber dann beginnen sie langsam zu begreifen. Manche glauben es einfach nicht. Einige schnappen die Nachricht auf, wie einen schlechten Witz.  Hinterher sind sie umso erschütterter. Da und dort Tränen.“ Als erster Politiker in Augsburg würdigt Hans Kramer, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des SPD-Ortsvereins, auf dessen eingangs erwähnter Versammlung den ermordeten Präsidenten.
Über ihren eigenen Rundfunksender AFN (American Forces Network) beordert die 24. US-Infanterie-Division ihre Soldaten zurück in die Augsburger Kasernen. Gegen 23.30 Uhr lässt sie die Zeitung auf deren Anfrage hin wissen: „Kein Grund zur Beunruhigung.“
Der bayerische Innenminister ordnet noch in der Nacht ein dreitägiges Verbot aller Veranstaltungen mit vergnüglichem bzw. unterhaltendem Charakter an (wozu Sport bis heute nicht zählt). Und so vermeldet die Lokalpresse „beinahe Grabesstille am Samstagabend in der Innenstadt“ sowie Gedenkminuten bei Fußballspielen, Eislaufen ohne Musik und „überall in der Öffentlichkeit tiefe Niedergeschlagenheit“.
Ab Montag liegen im Rathaus Kondolenzlisten aus, in die sich bis zum folgenden Freitagabend etwa 22.000 Menschen eintragen. Der Stadtrat beantragt einstimmig, den Platz vor dem Theater nach Kennedy zu benennen. Zeitgleich zur Beisetzung Kennedys ziehen an diesem 25. November in einem Fackelzug vor allem Schüler und Studenten schweigend durch die Innenstadt zu einer Gedenkfeier vor dem Rathaus, bei der unter anderem US-Divisionskommandeur W. A. Cunningham und Oberbürgermeister Klaus Müller zu 2500 bis 3000 still Versammelten sprechen.
Während laut US-Medien in Texas „einige Schulkinder auf die Nachricht von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten hin in lauten Jubel ausgebrochen seien“, hatten am Wochenende in München die Gäste bei der Neueröffnung des Nationaltheaters (18 Jahre nach dem Krieg) die Feier mit einer stillen Ehrung Kennedys begonnen, Schulen in Bayern ministeriell angeordnete Gedenkminuten eingelegt und das Attentat diskutiert, Gläubige in Gottesdiensten des Ermordeten gedacht.
Zeitzeugen im Allgäu erinnern sich noch an das überlange, 15-minütige Zwölf-Uhr-Läuten am Sonntag nach dem Attentat, das Der Allgäuer unter anderem so kommentierte: „Diese unsere Welt, von der man so leichthin sagt, nichts mehr vermöge sie wahrhaft zu erschüttern, ist aus den Fugen. Nur in die Kategorie des Unfassbaren vermag man dieses welthistorische, weltaufwühlende Ereignis einzuordnen.“ Das empfand wohl auch der Großteil seiner Leserschaft so; die Kemptener zum Beispiel reagierten auf den gewaltsamen Tod Kennedys „mit großer Bestürzung“ und „tief erschüttert“. Ältere meinten, so habe schon mal ein Weltkrieg begonnen, und erzählten von ihrem Erschrecken, als 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo erschossen wurde (was 1963 weniger lang zurücklag als heute das Attentat auf Kennedy). Jetzt beherrschte die schreckliche Nachricht aus Texas Gespräche daheim, in Geschäften und Gaststätten und in Kempten auch auf dem traditionellen Kathreinenmarkt, dem das staatliche Verbot öffentlicher Vergnügungen an den ersten Tagen seine Hauptattraktion nahm: Die mitunter schimpfenden Schausteller auf dem Königsplatz mussten ihre Schaukeln und Karusselle, Autoscooter und Achterbahnen sowie Musikboxen ruhen lassen.
Vom Besuch des übrigen Marktes hielt Kennedys Tod allerdings kaum jemanden ab: Bei herrlichem Wetter drängelten sich am Sonntag mehr Leute zwischen Hosenträgern und Haushaltwaren als in den letzten fünf Jahren, doch registrierte der Reporter des Allgäuer „allenthalben eine gedrückte Stimmung, die das ganze Getümmel gedämpfter erscheinen ließ“; Marktschreier blieben ruhig, Lautsprecher stumm, was sich auch am Montag nicht ändert; lediglich „an einem einzigen Spielwarenstand lässt eine Verkäuferin ganz leis und werbend eine Flöte aufpiepsen“, und ein paar Buben „schaukeln stumm in den stillstehenden Gondeln der Berg- und Tal-Bahn.“ Ein Händler erzählte: „Wir hören hier manches, was die Leute vielleicht nicht offen sagen möchten. Zumal am Sonntag drehten sich die Gespräche immer wieder um den Tod des Präsidenten; wir hörten von Sorgen, die sich die Menschen um die Zukunft machen.“
Dem Belustigungsverbot des Innenministers mussten auch Kinobetreiber folgen, den Tagen der Trauer und des Totengedenkens nicht angemessene Filme vom Programm verschwinden, weswegen zum Beispiel das Bürgertheater in Kempten während des Kathreinenmarktes statt der Komödie „Auf Freiersfüßen“ den „Würger von Schloss Blackmoor“ zeigte. In derselben Woche ehrte der SPD-Ortsverein Dietmannsried Kennedy mit einer Gedenkfeier, und auch eine CSU-Versammlung in Betzigau würdigte den Toten.
Dann durfte es wieder heiter zugehen: Eine Woche nach dem Attentat gab es im Kemptener Stadttheater „Die Fledermaus“, zwei Tage später spielte die Theatergruppe des Sportvereins im nahen Heiligkreuz die Komödie „Der Sündenfall“, und Schausteller auf dem Königsplatz der Allgäumetropole versuchten mit Drehorgeln und Schallplatten Publikum auf den Kathreinenmarkt zu locken, um nach der verordneten Trauerpause noch einmal gute Geschäfte zu machen.
Die Zeitung stützte die aufgehellte Stimmung durch einen hoffnungsvollen Kommentar zur vermutlichen Politik von Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson: „Was Kennedy begann, will Johnson, nach seinen eigenen Worten, fortführen. Johnson hat die welthistorische Rolle, die ihm ein furchtbares Geschick übertrug, vorbehaltlos angenommen.“ Unter anderem eskalierte er den von Kennedy begonnenen Krieg in Vietnam.



Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien 
am 22. November 2013 in der Augsburger Allgemeinen

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