© Ernst T. Mader
Augsburg,
Freitag, 22. November 1963. Um 21 Uhr bricht die örtliche SPD ihre
Delegiertenversammlung in der Gaststätte „Lerchenkrug“ (Bärenkeller) ab; zur
selben Zeit endet das Eishockeyspiel am Schleifgraben im heutigen
Curt-Frenzel-Stadion vorzeitig. Hier wie dort hat man soeben erfahren, was seit
kurzem in der Redaktion der Augsburger
Allgemeinen nach stummem Entsetzen für konzentrierte Hektik sorgt:
„Attentat auf Kennedy!“ steht auf einem Papierstreifen aus dem Fernschreiber -
eine sogenannte Blitzmeldung der US-Nachrichtenagentur UPI. Bald ergänzt die
Deutsche Presse-Agentur, der Präsident sei in Dallas, Texas nach zwei Schüssen
auf ihn „blutend zusammengebrochen“ und, bereits von Geistlichen begleitet, in
einem Krankenhaus. Nach etwa einer halben Stunde folgt die Nachricht vom Tod
John F. Kennedys. Bevor Rundfunk und Fernsehen darüber informieren, können
Passanten die „Hiobsbotschaft“ im Telegrammkasten der Zeitung in der
Ludwigstraße 2 lesen – zum letzten Mal bei einem welthistorischen Ereignis ist
in Deutschland die Presse schneller als die elektronischen Medien.
Minuten
nach dem „Weltunglück“ erlebt der Lokalreporter in Augsburger Gaststätten
„Bestürzung, Zweifel, Ungläubigkeit. Sie halten bald jeden, der die Nachricht
weitergibt, für einen Narren im ersten Augenblick. Aber dann beginnen sie
langsam zu begreifen. Manche glauben es einfach nicht. Einige schnappen die
Nachricht auf, wie einen schlechten Witz.
Hinterher sind sie umso erschütterter. Da und dort Tränen.“ Als erster
Politiker in Augsburg würdigt Hans Kramer, Landtagsabgeordneter und
Vorsitzender des SPD-Ortsvereins, auf dessen eingangs erwähnter Versammlung den
ermordeten Präsidenten.
Über
ihren eigenen Rundfunksender AFN (American Forces Network) beordert die 24.
US-Infanterie-Division ihre Soldaten zurück in die Augsburger Kasernen. Gegen
23.30 Uhr lässt sie die Zeitung auf deren Anfrage hin wissen: „Kein Grund zur
Beunruhigung.“
Der
bayerische Innenminister ordnet noch in der Nacht ein dreitägiges Verbot aller
Veranstaltungen mit vergnüglichem bzw. unterhaltendem Charakter an (wozu Sport bis
heute nicht zählt). Und so vermeldet die Lokalpresse „beinahe Grabesstille am
Samstagabend in der Innenstadt“ sowie Gedenkminuten bei Fußballspielen,
Eislaufen ohne Musik und „überall in der Öffentlichkeit tiefe
Niedergeschlagenheit“.
Ab
Montag liegen im Rathaus Kondolenzlisten aus, in die sich bis zum folgenden
Freitagabend etwa 22.000 Menschen eintragen. Der Stadtrat beantragt einstimmig,
den Platz vor dem Theater nach Kennedy zu benennen. Zeitgleich zur Beisetzung
Kennedys ziehen an diesem 25. November in einem Fackelzug vor allem Schüler und
Studenten schweigend durch die Innenstadt zu einer Gedenkfeier vor dem Rathaus,
bei der unter anderem US-Divisionskommandeur W. A. Cunningham und
Oberbürgermeister Klaus Müller zu 2500 bis 3000 still Versammelten sprechen.
Während
laut US-Medien in Texas „einige Schulkinder auf die Nachricht von der Ermordung
des amerikanischen Präsidenten hin in lauten Jubel ausgebrochen seien“, hatten
am Wochenende in München die Gäste bei der Neueröffnung des Nationaltheaters (18
Jahre nach dem Krieg) die Feier mit einer stillen Ehrung Kennedys begonnen, Schulen
in Bayern ministeriell angeordnete Gedenkminuten eingelegt und das Attentat
diskutiert, Gläubige in Gottesdiensten des Ermordeten gedacht.
Zeitzeugen
im Allgäu erinnern sich noch an das überlange, 15-minütige Zwölf-Uhr-Läuten am
Sonntag nach dem Attentat, das Der Allgäuer
unter anderem so kommentierte: „Diese unsere Welt, von der man so leichthin
sagt, nichts mehr vermöge sie wahrhaft zu erschüttern, ist aus den Fugen. Nur
in die Kategorie des Unfassbaren vermag man dieses welthistorische,
weltaufwühlende Ereignis einzuordnen.“ Das empfand wohl auch der Großteil
seiner Leserschaft so; die Kemptener zum Beispiel reagierten auf den
gewaltsamen Tod Kennedys „mit großer Bestürzung“ und „tief erschüttert“. Ältere
meinten, so habe schon mal ein Weltkrieg begonnen, und erzählten von ihrem
Erschrecken, als 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in
Sarajewo erschossen wurde (was 1963 weniger lang zurücklag als heute das
Attentat auf Kennedy). Jetzt beherrschte die schreckliche Nachricht aus Texas Gespräche
daheim, in Geschäften und Gaststätten und in Kempten auch auf dem
traditionellen Kathreinenmarkt, dem das staatliche Verbot öffentlicher
Vergnügungen an den ersten Tagen seine Hauptattraktion nahm: Die mitunter schimpfenden
Schausteller auf dem Königsplatz mussten ihre Schaukeln und Karusselle,
Autoscooter und Achterbahnen sowie Musikboxen ruhen lassen.
Vom
Besuch des übrigen Marktes hielt Kennedys Tod allerdings kaum jemanden ab: Bei
herrlichem Wetter drängelten sich am Sonntag mehr Leute zwischen Hosenträgern
und Haushaltwaren als in den letzten fünf Jahren, doch registrierte der
Reporter des Allgäuer „allenthalben
eine gedrückte Stimmung, die das ganze Getümmel gedämpfter erscheinen ließ“;
Marktschreier blieben ruhig, Lautsprecher stumm, was sich auch am Montag nicht
ändert; lediglich „an einem einzigen Spielwarenstand lässt eine Verkäuferin
ganz leis und werbend eine Flöte aufpiepsen“, und ein paar Buben „schaukeln
stumm in den stillstehenden Gondeln der Berg- und Tal-Bahn.“ Ein Händler erzählte:
„Wir hören hier manches, was die Leute vielleicht nicht offen sagen möchten. Zumal
am Sonntag drehten sich die Gespräche immer wieder um den Tod des Präsidenten;
wir hörten von Sorgen, die sich die Menschen um die Zukunft machen.“
Dem
Belustigungsverbot des Innenministers mussten auch Kinobetreiber folgen, den
Tagen der Trauer und des Totengedenkens nicht angemessene Filme vom Programm
verschwinden, weswegen zum Beispiel das Bürgertheater in Kempten während des
Kathreinenmarktes statt der Komödie „Auf Freiersfüßen“ den „Würger von Schloss
Blackmoor“ zeigte. In derselben Woche ehrte der SPD-Ortsverein Dietmannsried
Kennedy mit einer Gedenkfeier, und auch eine CSU-Versammlung in Betzigau
würdigte den Toten.
Dann
durfte es wieder heiter zugehen: Eine Woche nach dem Attentat gab es im
Kemptener Stadttheater „Die Fledermaus“, zwei Tage später spielte die Theatergruppe
des Sportvereins im nahen Heiligkreuz die Komödie „Der Sündenfall“, und
Schausteller auf dem Königsplatz der Allgäumetropole versuchten mit Drehorgeln
und Schallplatten Publikum auf den Kathreinenmarkt zu locken, um nach der
verordneten Trauerpause noch einmal gute Geschäfte zu machen.
Die Zeitung stützte die aufgehellte Stimmung durch
einen hoffnungsvollen Kommentar zur vermutlichen Politik von Kennedys
Nachfolger Lyndon B. Johnson: „Was Kennedy begann, will Johnson, nach seinen
eigenen Worten, fortführen. Johnson hat die welthistorische Rolle, die ihm ein
furchtbares Geschick übertrug, vorbehaltlos angenommen.“ Unter anderem eskalierte
er den von Kennedy begonnenen Krieg in Vietnam.
Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien
am 22. November 2013 in der Augsburger Allgemeinen
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